VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1909–1912, Seite 4

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2. Guttings box 37/4
Zwitterkunst.
unverändert gelassen. Immer wieder wird eine neue Seite, eine neu facettierte
Fläche gezeigt, aber immer wieder breitet dieselbe verzweifelnde, nieder¬
drückende brutale Ergebenheit und Charaktergröße eine schwüle, dumpfe Ge¬
witter=Atmosphäre aus. Ein Gedanke steigt auf (im „Dan“), eine Erinnerung
wird geweckt, aus einer verborgenen Ganglionzelle aufgestöberi, und alles
Leben dieser Epoche breiket sich von neuem aus: die vergeistigte Hysterie.
Aber die Nuancierung ist verfeinert und in jedem Kapitel eine neue Abweichung
festgehalten. So könnte jedes ein Gedicht, das XXXIII. eine Ballade sein.
In jedem wird die Seele aller Hülle entkleidet, jedem Menschen werden
Empfindungen und Gedanken oktroyiert, die Seelenemenationen sind, durch die
Empfindung des Leutnanks Glahn gesehen. Zwei, letzten Endes widerstrebende
Arten werden vereint.
Das Lyrische ist der stärkste Faktor in diesen Künstlern; aber der
letzte Rest zum Reinlyriker fehlt. And Epik oder Dramatik muß sich
hergeben, um die Gestaltung überhaupt zu ermöglichen. „Frau Berta
Garlan“ und „Leutnant Gustel“ sind unabhängig von Hamsun entstanden,
diesem Skandinavier fast legitime Kinder. In „Pan“ wird eine hysterische
Gefühlsperiode zu ihrem realen Ausgangspunkt zurückverfolgt, in „Frau
Berta Garlan“ begleitet sie der Dichter von ihrem ersten feelischen, greif¬
baren Auftauchen bis zum letzten Verstummen, bis zur Befriedigung der in
der Witwenaskese sich angstvoll bäumenden Leidenschaft und der nachfolgenden
Zeit des Beruhigtseins. Alles, was „Frau Garlan“ empfindet, wird erzählt.
Auf Schritt und Tritt begleitet sie, genauer: ihre Nervenarbeit, der Dichter.
Nie faßt „Frau Garlan“ einen Entschluß, ohne daß nicht die Kausalität ihrer
dichtesten Verhüllung entblößt würde. Alle Menschen werden nach dem Refler
eines Hohlspiegelbildes hysterischer Weibesempfindung gezeichnet, jede Regung,
jede Tat wird nicht als dramatischer Schritt zur Lösung, sondern als Folge
einer Empfindung, einer Gefählswallung erklärt. Psychognostik ist Trumpf.
So zerfließt selbst die Epik in Lyrik, und nur die letzten Seiten mit ihrer
tendenziösen Klage erinnern durch ihre Gebärde an einen Roman. Auch
Hamsun will von „Dan“ den Eindruck feinster und gröbstempfundener Lyrik
bannen, und sucht durch ein rein erzählendes Nachwort, in das noch ein
Stimmungsatom jener Hysterie fällt, die Leser vom Zwitterhaften seiner
Kunst abzulenken.
Das Produkt des gleichen Stimmungsmaterials ist „Leutnant Gustel“
nur noch reiner, klarer, eindeutiger. Aber der lyrische Duft ist verschwommen,
das epische Klammerngebäude durch eine Interpunktionsmyriade (stärker als
bei „Frau Garlan“ empfindbar) so zerbohrt und durchlöchert worden, daß uns
der rechte Zauber nicht mehr erfassen will. Es ist begriffliche Lyrik und be¬
griffliche Epik. Der Eindruck übermäßiger Gefühlstiefe ist vielleicht mit Ab¬
sicht vermieden; Distanz des Poeten ist erstrebt und oft erreicht. Die Empfin¬
dung, erzählende Lyrik zu lesen, unverwischbar. Denn was ist das Ganze?
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