VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1909–1912, Seite 5

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2. Guttings box 37/4
Felix Stöfsinger.
Gefühl= und Stimmungsschilderung. Epische Abwickelung eines Innenlebens,
das ganz unter einem Eindrucke steht. Oder, da ich vorhin Lyrik zu definieren
suchte, als kondensierte Reinkultur des eigenen Empfindunglebens, heißt die
Formel auf das episch-lyrische Zwitterkunstwerk übertragen: Epische Kultivierung
einer subjektiven oder objektiven Gefühlseinheit.
Ist diese Definition richtig, dann zerfällt die (vorwurfsvolle) Klassifizierung
Whitmans als Prosalyriker in nichts. Denn nie will er ein einheitliches,
einem Menschen abstrahiertes Gefühl zum Zweck seiner Einzeldichtung machen.
Eine ungeheure, vulkanische Masse sucht in eruptiver Ausdrucksart eine Ahnung
ihres Lebens dem Leser zu übermitteln. Wie nach der Lava ein feuerspeiender
Berg, muß nach dem vorhandenen Dichtungsmaterial sein Wesen hypothetisch
beurteilt werden. Alles kondensiert sich ihm zur Empfindung, aber der Stoff
ist zu grob, der Resonanzboden zu massiv, um eine zarte Nuancenscheidung
zu ermöglichen. Alles ist ihm eins, alles der bewundernswerte Ausdruck einer
Schöpfungskraft. Die Masse zu zähmen, eine Ahnung von seiner Vorstellungs¬
welt zu geben, den Kern seiner Kunst zu fassen, reichte keine schematisierte
Dichtungsform bisheriger Zeiten aus. Darum wählt er einen neuen Stil, die
nach stofflichen Gesichtspunkten teilbare Strophe. Alle Rücksichten auf Metrum
(Lyrik) und sinngemäße Gliederung des zu erzählenden Stoffes (Epik) fallen
weg. Neues Desein will sch neu formen, aber wir dürfen die neue Form
nicht durch zufällige Gedankenassoziationen mit ähnlichen Eindrücken, herab¬
setzen und den Kern nach der Schale beurteilen. Whitman ist kein Zwitter¬
künstler, sondern pathetischer Lyriker.
Der Raum verbietet eine weitere Auseinandersetzung. Dostojewskys
und Turgenjews Einfluß auf die Zwitterkunstwerke Hamsuns und Schnitzlers
durch seine psychologischen Romane, des Schweden Carl Jonas Ludwig Almquist
Versuche, alle Kunstarten neue Formen zu finden, die Arbeiter von Deter
Hille, Gedich“e in Prosa von Reiner Maria Rilke und der Zersetzungsprozeß
moderner Dramatik in dialogisierte Lyrik, — alles das kann ich hier nur er¬
wähnen, um ähnlichen Versuchen das Material zu weisen. Betonen will ich
noch, daß die Musik eine Zwitterkunst im Sinne der Poesie nicht kennt. Wenn
z. B. ein Komponist das Rezikativ, oder genauer gesagt, das Schema des
Rezitativs, in Instrumentalkompositionen verwendet, so ist der Stilmangel
rein technischer Natur, denn den Charakter des Rezitativs bestimmt die Aus¬
führung durch den Kehlkopf oder durch ein Instrument. Bach in der chroma¬
tischen Phantasie und in der Violinsonate G=Moll, Beethoven im op. 31, 2,
op. 81 in der 9. Symphonie und im Cis=Moll Quartekt haben nur der Form,
aber nicht dem Charakter nach, Zwittergebilde in ihre Kunstwerke gebracht.
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