VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1909–1912, Seite 28

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Hugo v. Hofmannsthal.
glaubt, jedoch nach dem plötzlichen Tode des Geliebten
erfährt, daß sie für ihn nur eine Liebelei gewesen, schöpft
aus allgemeinmenschlicher Quelle, wirkt ergreifend, ist gut
gebaut und straff aus Ende geführt. Es ist bis heute
Schnitzlers bedeutendster Veitrag zum lebendigen Drama
der Gegenwart geblieben.
Dichterisch höher steht sein „Einsamer Weg“ (1904), ja,
es gibt darin einen Auftritt zwischen Vater und unehe¬
lichem Sohn, den ich für das Stärkste von Schnitzlers
Bühnendichtung halte. Leider finden sich in diesem sehr
ernsten Drama allerlei Unklarheiten, und durch eine nur
lose zusammenhängende Doppelhandlung wird unsere Teil¬
nahme bis zur Ermüdung hin und her gerissen. Bleiben
werden von Schnitzlers dramatischem Lebenswerk außer
Liebelei“ wohl einige ungemein feine, plandersame, wir¬
kungsvolle Einakter, so „Der grüne Kakadu“, „Das Abschieds¬
souper“ und die unter dem Gesamttitel Anatol“ ver¬
einigten, geistreichen Stücklein, die von weitem an Hart¬
lebens „Lore“ erinnern. Das liebenswürdigste Lustspielchen
dieser Sammlung ist „Die Frage an das Schicksal“; kein
geistreicher Franzose macht dies geistreicher.
Hugo v. Hofmannsthal aus Rodann bei Wien,
geboren 1874, schuldet uns immer noch ein eignes Stück,
durch das er den ungeheuern Ruhmesvorschuß bei seinen
Zeitgenossen endlich tilge. Von seinen kleinen älteren
Dramen („Die Hochzeit der Sobeide", „Die Frau im
Fenster“. Der Tor und der Tod“) haftet nur eine wohl¬
klingende Sprache im äußern Ohr; von einem Nachklingen
im Innern habe ich nichts gespürt. Wortmusik, Tief¬
sinnigtun, Gespensterei — doch wie gedankenarm und im
Grunde unpoetisch ist all dieses Getue! In seinen größeren
Stücken ist Hofmannsthal durchweg ein Nachdichter. Wie
sich Hauptmann in den letzten Jahren an Shakespeare,
Storm, Hartmann von Aue, Grillparzer, Browning, wie
sich der Jung=Wiener Beer=Hofmann in seinem „Grafen
Illustrirte Zeitung.
von Charolais“ an Massinger einen Zeitgenossen
Shakespeares angelehnt hat, so hat Hofmannsthal
nacheinander Sophokles, den mittelmäßigen eng¬
lischen Dramatikern Otway und wiederum Sophokles
nach= und umgedichtet. Ganz mißglückt sind ihm
seine Umdichtungen „Das gerettete Venedig“ sowie
Die Wahl des letzten
„Odipus und die Sphiur“
Stoffes beweist mir, daß Hofmannsthal kein wirklich
dramatisch empfindender Dichter ist. Das gesamte
Drama der christlichen Völker ruht auf der dichte¬
rischen Voraussetzung der Willensfreiheit. Ein unfreier
Mensch kann sehr traurige Dinge erleben, tragische
nicht; denn zur Tragik gehört Kampf, und gegen das
vorausbestimmte Schicksal gibt es keine Möglichkeit des
Kampfes.
Einigermaßen anders steht es mit Hofmannsthals
Umdichtung der „Elektra“ (1903). Ihre Aufführung im
Kleinen Theater in Berlin, zumal mit Gertrud Eysoldt
in der Hauptrolle, gehörte zu den großartigsten Bühnen¬
darstellungen des letzten Menschenalters. Der aufregen¬
den Wirkung des Stückes und des Spiels konnten sich
selbst solche Zuschauer nicht entziehen, die hinterher auf
den großen Abstand zwischen der „Elektra“ des alten
Sophokles und der des jungen Österreichers hinwiesen.
Ich stehe auch nicht an, zu erklären, daß — abgesehen
von den überragenden Schönheiten der Sophokleischen
Tragödie — mir Hofmannsthal in einem wesentlichen
Punkte den furchtbaren Stoff stilgerechter als der große
Grieche behandelt hat. Was in der „Elektra“ geschieht,
und was den Geschehnissen vorausgegangen ist: Gatten¬
mord, Verfolgung der eignen Kinder durch die Mutter,
Aufstachelung des Bruders durch die Schwester zur Er¬
mordung ihrer Mutter, endlich die Abschlachtung hinter
der Bühne, doch so, daß wir den Todesschrei der beiden
Opfer hören, dazu der anfeuernde Ruf der Schwester
an den Bruder zur Wiederholung des Todesstreiches:
kein Drama der Weltliteratur bietet ähnliche Greuel
dar, und zu ihrer Darstellung gehört ein Stil, der
nicht wie der des Sophokles edel tönt und schönt, wo es
nichts zu tönen und zu schönen gibt.
Ich schließe der Landsmannschaft wegen hier ein Wort
über den österreichischen Schiller=Preisträger und seinen
deutschen Preisgenossen an: über Karl Schönherr und
Ernst Hardt. Karl Schönherr, geboren 1868 im tiro¬
lischen Arams, hatte sich schon durch sein Drama „Sonn¬
wendtag“ (1902) einen guten Namen gemacht, ohne uns
von einer unzweifelhaften Begabung für das Drama zu
überzeugen. Sein preisgekröntes Stück „Erde“ hatte ich
bald nach dem Erscheinen im Buch gelesen, manchen kräf¬
tigen Auftritt darin gefunden, doch nie ist mir dabei der
Gedanke gekommen, es sei das Stück, das die Bedingungen
des Schiller=Preises erfüllte. Indessen, die Geschichte dieses

Nr. 3448. 29. Juli 19
Karl Schönherr.
Drama „Tantris der Narr“ ist ein gutes Stück L#
ein Drama, vollends ein wirksames Bühnenstück
nicht. Auch hier aber wollen wir uns freuen, d
wirkliches Talent ermutigt wird.
Ich mag nicht endigen, ohne eines Seitensch
unseres gegenwärtigen Dramas zu gedenken: der
kunst. Sie ist ja längst dem Schicksal literarischer
verfallen, deren Dauer in der neusten Zeit kaum
Krawattenmoden erreicht, und etwas bleibend Wer
hat sie nicht hinterlassen. Dennoch hat sie einen be
Dramatiker, zwar nicht hervorgebracht, doch in den A
grund gezogen: Hanns v. Gumppenberg, gebore
in Landshut. Da in Deutschland ein jeglicher vo
Kanzleiräten und Registratoren der Literatur in
stimmtes Fach geschoben wird, so hat sich Gumpp
gefallen lassen müssen, daß man ihn in die Schi
der Brettldramatiker gestopft hat, und das ist ein
Unglück für diesen echten dramatischen Dichter gew
Sein dramatisches Vermögen reicht vom ausgelas
Bühnenscherz, von den zwerchfellerschütternden
dramen“ über das zierliche Bühnentändelspiel („Die9
königin“) und das echte Lustspiel („Münchhausens
wort“) zum tiefen Gedankendrama und gipfelt in
höchsten Wurf, dem „Messias“ dem dichterisch werto
Christusdrama unserer Literatur. An dem Dran
Gumppenberg begeht die deutsche Bühne schweres U
daß sie seine künstlerisch reifen Schöpfungen nicht be
Ich kann von ihm nicht scheiden, ohne seines unver
lichen Büchleins zu gedenken: „Teutsches Dichterr
allen Gangarten vorgeritten“. Ich kenne in keiner
ratur eine so künstlerische, zugleich so ausgelassene
lung von dichterischen Parodien.

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