VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1909–1912, Seite 34

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nicht unmittelbar tätigen Mit¬
zu Sonderaufgaben, Reichsdeutsch¬
kämpfers, eines Zuschauers, aber
land zeigte wenig Verständnis für
die besonderen Kulturbedingungen
nicht eines ruhigen, sondern eines
Deutschösterreichs, und so wollte sich
zur Ruhe gezwungenen. Er hat
damit jene österreichische Stim¬
auch in den neuen Zeiten kein
mung, wie sie die österreichische
ganz unmittelbarer Zusammenhang
Literatur geradezu beherrscht, ganz
zwischen West und Ost herstellen.
klar gekennzeichnet. Deutschöster¬
Die einzelnen, die der deutschen
Kulturgemeinschaft wirklich ange¬
reich nimmt, soweit es sich über¬
hörten, waren in ihrer engeren
haupt in Zusammenhang mit dem
Volksgemeinschaft einsamer als
großen deutschen Kulturleben fühlt,
sehr leidenschaftlich daran teil, sehr
vorher. Nur ganz wenige wußten
innerlich, mit einer Art von ro¬
zu vermitteln zwischen dem „öster¬
reichischen Mutterland“ und dem
mantisch oder pathetisch gesteiger¬
„deutschen Vaterland“, wie das so
tem Empfinden. Die großen deut¬
schen Erlebnisse von Kant und
glücklich Rosegger gelingt. Die
einen entfremdeten sich der Heimat
Goethe bis zu den modernen Be¬
strebungen für eine kulturelle Ein¬
und verloren den Boden (man
heit hat Deutschösterreich aus zwei¬
denke an die „Wiener“ Dichter, an
Hofmannsthal, Bahr, an Schnitzler,
ter Hand empfangen, nacherlebt
der Wien zu schildern glaubt, wenn¬
oder nachgeträumt (wie Grillparzer
die Klassik nachträumte).
er eine besondere Gesellschaftsschicht
darstellt). Die anderen blieben so
Warum nicht unmittelbar, mit¬
schaffend, als dazugehörig miter¬
sehr in den heimischen Verhält¬
lebt? Grillparzer und die erste
nissen gefangen, daß sie in Reichs¬
Hälfte des neunzehnten Jahrhun¬
derts war gehemmt durch den Ab¬
achtet wurden (wie Pichler, Krane¬
witter und viele andre). Überdies
solutismus. Systematisch wurde
damals jeder isoliert und in seiner
wurden sie im Bewußtsein des
reichsdeutschen Publikums vielfach
Wirksamkeit gehindert; der am
deutschen Kulturleben teilnehmen
von jenen heimatfremden Dichtern
verdrängt.
wollte. Aber seit 48? Warum
Aus jenem oft leidenschaftlich
auch im modernen Österreich noch
immer jenes Gefühl des Beiseite¬
übersteigerten Bedürfnis, mitzu¬
erleben, was „draußen“ vorgeht,
stehens, der nicht ganz selbstver¬
und dem gleichzeitig immer wieder
ständlichen Zugehörigkeit, jenes
genährten Gefühl des Abseitstehens
Nachträumen?
ergibt sich dann die seltsame Er¬
Jeder kennt die neuen politischen
scheinung, daß man sich „draußen“.
Hemmungen, die nach Beseitigung
und „drinnen“ immer wieder trotz
der alten sich einfanden. Die
vielen guten Wollens mißversteht;
fremden Nationalitäten nahmen
daß man aneinander vorbeigerät.
Deutschösterreich mehr und mehr
In Reichsdeutschland hegt man der
in Anspruch. Wirtschaftlich, sozial,
österreichischen Literatur gegenüber
kulturell hatte es an den Blei¬
ein ziemlich lebhaftes Interesse, das
gewichten: den Anforderungen jener
um so bemerkenswerter ist, als
andern, erst in der zweiten Hälfte
man im Reich von den deutsch¬
des neunzehnten Jahrhunderts zur
österreichischen politischen Ange¬
Entwicklung gelangenden Völker zu
legenheiten noch immer viel zu
schleppen. Alle Kulturkräfte waren
abgelenkt von den großen deutschen oberflächlich unterrichtet ist. Aber
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