VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1909–1912, Seite 38

2. Cuttings
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„ODÖERTEN
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burg, Toronto.
(Oaellenangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus:
Danzer's Armnce-Zeitung, Wien.
15 12.1370
vom:
„Der Kritiker des „Fremdenblattes“
Artur Schnitzler gehört zweifellos zu den interessantesten und höchst¬
stehenden Diche heutigen Oesterreich. Aus bescheideneren dichterischen
Anfängen, in denen das pikante Milien doch stark prävalierte, erhob er sich
in späteren Werken zu einwandfreier Größe. In seinem „Grünen Kakadn“ gab
er ein historisches Gemälde von packenden Farben, im „Schleier der Beatriee“
erklomm er einsame Höhen, im „Zwischenspiel“ zeichnete er mit unnachahmlicher
Meisterschaft subtile psychologische Probleme, sein Roman „Der weite Weg“ ist
vielleicht der klarste Spiegel des heutigen Wien und über den „Jungen Medardus“
haben wir in diesen Wochen ja genug gehört.
Nur ganz gelegentlich, in sehr schwachen Stunden, ist Schnitzler zum
Tendenzdichter herabgesunken, und niemand, der nicht geradezu verblendet ist,
kann verkennen, daß in diesen ganz wenigen Tendenzwerken Schnitzlers auch
sein poetisches Vermögen intermittiert hat. Der „Leutnant Gustl“ ist
teilweise ein Meisterwerk wie Schnitzlers andere Novellen, der tendenziöse Schluß
virkt aber nicht bloß wegen der Absicht, sondern auch wegen des mangelnden
erganischen Zusammenhanges mit dem Vorausgegangenen verstimmend. Der
„Lentnant Gustl“ ist zweifellos eine der schwächsten Leistungen Schnitzlers
(es ist bekannt, daß Schnitzler, der bis dahin k. k. Assistenzarzt in der Evidenz
der Landwehr war, wegen dieser Novelle ehrengerichtlich seine Charge verlor),
und diese Novelle wird an künstlerischer Minderwertigkeit nur noch von dem
hohlen dialektischen Antiduellschauspiel „Freiwild“ überboten, dessen Haupt¬
effekt darin besteht, daß am Schluß des zweiten Akts ein Offizier auf offener
Bühne geohrfeigt wird.
Dieser Tage wurde im Deutschen Volkstheater in Wien ein Jugend¬
werk Artur Schnitzlers aufgeführt, die Szenenreihe „Anatol“. Max Burckhard,
der neue Kritiker des „Fremdenblattes“, schrieb hierzu ein Feuilleton, worin,
er zeigte, wie nachhaltig in der Meinung des großen Publikums die Gestalt
Anatols mit der dichterischen Persönlichkeit Artur Schnitzlers verschmolz, so
daß man die fernere Entwicklung Schnitzlers übersah; Burckhard schreibt
wörtlich:
„Wenn andere von der elementaren Kraft er¬
schüttert waren, mit der Schnitzler soziale Probleme
vorführte, wie im „Leutnant Gustl“, im „Freiwild“, dann
vermochten sie nur das süße Mädel und Anatol zu sehen, und wenn sie
einmal bei einer Premiere nicht mit Fingern auf Anatol und das süße
Mädel zeigen können, dann halten sie sich schadlos dafür, wie sie können.“
In dem ganzen Feuilleton weiß Burckhard kein anderes Werk von
Schnitzler als just den „Leutnant Gustl“ und da „Freiwild“ zu neunen. Daß
nun dem interessanten Hofrat, der sein künstlerisches Unvermögen als Leiter
des Burgtheaters unseligen Angedentens deutlich genug bewiesen hat, gerade
die beiden minderwertigsten Werke Schnitzlers am besten gefallen, und nur
deswegen, weil diese beiden Werke extrem offiziersfeindlich sind,
nimmt uns nicht wunder. Daß aber eine Zeitung, die sich dem militärischen
Publikum=ffanz speziell anbiedert, sich just diesen interessanten Herrn und keinen
bessgren zu engagieren wußte, das scheint doch geeignet, einige Schlafende
außzurütteln.
S