Monatliche Beilage
für
Literatur und Wi
ssenschaft
„Mannheimer General=Anzeiger“
„Badische Neueste Nachrichten“
1911.
Mai
Nr. 5.
Inhalt: Dr. Erich Sieburg (Herne): Artbur Schnitzler. — Paula Schneidweiler (Mannheim): Moderne deutsche Lyrik. — Prof. Th. H.: Von
W. P. Schleiermacher: Der Philosoph des Glaubens. — Rundschau: Theologie, Philosophie) Musik, Theater,
Kunst und Künstlern. —
Deutsche Literatur, Neuigkeiten für Bücherfreunde, Ausländische Literatur und Sprache, Neue Romane, Zeitschriften, Schundliteratur
und Volksbildung.
zu sein. Darin war ihm nur ein großer Erfolg beschieden. Sein
Artur Schnitzler,
1895 zuerst aufgeführtes Schauspiel „Liebelei“ wird auf der Bühne
1#
fortleben, wenn der „Anatol“ längst einer unverdienten Ver¬
* Artur Schnitzler ist der Dichter der melancholischen Skepsis.
gessenheit anheimgefallen ist. In der „Liebelei“ gibt Schnitzler
Oesterreichs stagnierendes politisches Leben, Wiens altehrwür¬
etwas spezifisch Wienerisches, aber dieses Trauerspiel des Mädels
dige, aber mit Raffinements gesättigte Kultur, dis der Genußfä¬
aus dem Volke, das sich von dem einer höheren Kaste angehörenden
higkeit, nicht der Tatkraft seiner Bewohner zugute kommt, viel¬
jungen Manne geliebt wähnt, nachdem er aber einer vornehmen
leicht auch ein aus Schnitzlers Herkommen resultierender semiti¬
Dame wegen im Duell gefallen ist, erfahren muß, daß sie ihm
scher Einschlag, das alles machte ihm zum Dichter der Lebens¬
nichts war, gut genug höchstens für eine flüchtige Liebelei, und an
freude, die immer in der verdrossenen Frage endet, wozu das
dieser Enttäuschung zu Grunde geht, diese Geschichte versteht man
alles? Das verdarb ihm den Geschmack und auch wohl den rich¬
auch, ohne von Wiener Leichtsinn und Sentimentalität etwas Be¬
#tigen Chick für die normale bürgerliche Ehe, sodaß er die Bezie¬
sonderes zu wissen. Schnitzlers spätere Probleme, die in ihren
hungen zwischen Mann und Weib fast nur vom Standpunkt des
technischen Ausführungen gewissenhafte Arbeit und strenge Selbst¬
sogenannten Verhältnisses aus betrachtet, das bringt ihn endlich
kritik nie verleugnen, sind, wie etwa das der reizvollen Künstler¬
zum Zweifel an Wert und Wirklichkeit des Daseins überhaupt,
komödie „Zwischenspiel“ nicht greifbar genug, mitunter auch zu
und Shakespeares Work: „Das Lehen ist ein wandelnder Schatlen
erkfügelt, um Dauererfolge zu erzielen. So bielel auch das Ver¬
mur, ein armer Spieler, der auf der Bühn' sein Stündchen
ständnis seines großzügigsten Werkes des Renaissancedramas
prahlt und lobt und dann nicht mehr gehört wird,“ gäbe ein pas¬
„der Schleier der Beatrice“ mancherlei Schwierigkeiten. Auf die
sendes Motto für die meisten seiner Dichtungen. Sicher ist am
Renaissance sah sich Schnitzler als Dichter des Wien von heute,
Ende nur: daß wir leben und einmal sterben müssen. Um Leben
von dem vieles hinübergreift auf das Florenz oder Bologna des
und Tod bewegt sich Schnitzlers Schaffen. Den Beginn freilich
16. Jahrhunderts, bei der Wahl eines geschichtlichen Stoffes na¬
bezeichnet die graziöse Leichtigkeit der sieben Einakter des „Ana¬
turgemäß verwiesen. Im Zeitkolorit ist das Stück von bewun¬
tol“, der aber, wie Schnitzlers Freund, Hugo von Hofmannsthal,
dernswerter Echtheit, aber die Art jener Beatrice Nardi, die in
in der Vorrede sich ausdrückt, kaum etwas anders gibt als „böser
einer Nacht die Geliebte eines Dichters, die Gemahlin eines Her¬
Dinge hübsche Formeln“. Sehr hübsche Formeln. Aus dem Stil
zogs, die Braut eines Handwerkers ist und alle zum Narren
dieses Erstlingswerkes spricht eine erlesene Wortkunst, in selbstver¬
hält, um zuletzt an einem Dolchstoß zu sterben, und in der Schnitz¬
ständlicher Nonchalance gleitet Rede und Gegenrede dahin, ohne
ler wohl den Geist jener Zeit in seiner Schönheit, Wandelbarkeit
ein Zuviel, ohne Gemeinplatz und geistvoll auch im Gewöhnlichen.
und seinem Lebenshunger darstellen wollte, diese Art kann man
Anatol ist der philosophierende Lebemann, seine erotischen Ge¬
eben nur auf Treu und Glauben hinnehmen; sie überzeugt nicht.
nüsse und Abenteuer hinterlassen getäuschte Hoffnungen, Schmer¬
In einem zweiten historischen Stück dagegen, dem Einakter „Der
zen und einen Rest jener nach Dauer im Wechsel tastenden Sehn¬
grüne Kakadu“, gibt er ein Vorspiel zur französischen Revo¬
sucht des besser gearteten Menschen. Und wenn somit in den Ge¬
lution von packender Gewalt. Wieder handelt es sich um das Le¬
sprächen zwischen Anatol, seinem blasierten Freunde Max und der
ben und seine Wirklichkeit, die den in frivolem Schein tändelnden
jeweiligen Geliebten, sei es eine Frau der Gesellschaft, eine Schau¬
Aristokraten des Paris von 1789 im Weinkeller des ehemaligen
spielerin oder ein süßes Mädel aus der Vorstadt, wenn darin die
Schauspieldirektors Prospere auf's surchtbarste zum Bewußtsein
Tatsachen an sich auch weiter nichts bedeuten als die herkömmlichen
gebracht wird. Die blasierten Damen und Herren finden einen
Banalitäten der Liebe, die Melancholie der Unzufriedenheit, die
ästhetischen Kitzel darin, sich das Elend des armen Volkes von den
über dem Buche liegt, erhebt es hoch über die Chambre=separée¬
Schauspielern Prospères vorspielen zu lassen und sich ungefährdet
Erinnerungen verwandter Art und empfiehlt es für stille Stun¬
zwischen Gaunern und Strolchen zu bewegen. Einer von diesen
den. Allerdings setzt es einen gewissen Grad des weltmännischen
jedoch macht das Spiel zur Wirklichkeit, indem er einen Herzog
Empfindens veraus, über das Schnitzler selbst verfügt. Diese
ersticht, der ihm die Frau verführte. Zugleich dringen die Ba¬
seine chevalereske Art zu denken, seine Diskretion im Heikelsten,
stillenstürmer in den Kelier. Mit dem alten Frankreich, dem
berechtigen ihn, ein Buch wie den „Reigen“ zu schreiben, eine an
alten Europa ist es vorbei. Die wuchtige Gedrungenheit dieses
zehn Menschenpaaren illustrierte Physiologie der Liebe in Dialog¬
in seinen Kontrasten genial gegebenen Stücks Geschichte hat
form, die, um einen Ausdruck Hebbels zu gebrauchen, den letzten
Schnitzler nicht wieder ereicht. Das Nachdenkliche überwog fortan
zwischen den Geschlechtern angängigen Prozeß behandelt. Selten
l bei ihm. Mit dem den Kunstdünkel gewisser Literatenkreise per¬
sind über die Nachtseiten menschlichen Trieblebens treffendere
siflierenden Schwank „Literatur“ tat er noch einmal einen lustig
Worte gesprochen worden. Der wissenschaftlich beobachtende
flotten Wurf, in den anderen drei Stücken des Einakterzyklus
Arzt und der die Seele durchschauende Dichter vereinigen sich hier,
„Lebendige Stunden“, die 1901 mit Ehren aufgeführt wurden,
letzte Erkenntnisse zu fördern, nicht aber durch Pilanterie zu un¬
vertiefte sich der melancholische Humor Anatols zur Trauer, und
terhalten. Daß sich das zunächst nur für Schnitzlers engeren
die Frage: Wozu das alles? wird zur resignierten Klage. „Wie
Freundeskreis bestimmte Buch an reise Menschen wendet, versteht
sich von selbst, es ist überhaupt nicht Schnitzlers Manier, populärj armselig sind doch die Leute, die auch morgen noch leben müssen.“
für
Literatur und Wi
ssenschaft
„Mannheimer General=Anzeiger“
„Badische Neueste Nachrichten“
1911.
Mai
Nr. 5.
Inhalt: Dr. Erich Sieburg (Herne): Artbur Schnitzler. — Paula Schneidweiler (Mannheim): Moderne deutsche Lyrik. — Prof. Th. H.: Von
W. P. Schleiermacher: Der Philosoph des Glaubens. — Rundschau: Theologie, Philosophie) Musik, Theater,
Kunst und Künstlern. —
Deutsche Literatur, Neuigkeiten für Bücherfreunde, Ausländische Literatur und Sprache, Neue Romane, Zeitschriften, Schundliteratur
und Volksbildung.
zu sein. Darin war ihm nur ein großer Erfolg beschieden. Sein
Artur Schnitzler,
1895 zuerst aufgeführtes Schauspiel „Liebelei“ wird auf der Bühne
1#
fortleben, wenn der „Anatol“ längst einer unverdienten Ver¬
* Artur Schnitzler ist der Dichter der melancholischen Skepsis.
gessenheit anheimgefallen ist. In der „Liebelei“ gibt Schnitzler
Oesterreichs stagnierendes politisches Leben, Wiens altehrwür¬
etwas spezifisch Wienerisches, aber dieses Trauerspiel des Mädels
dige, aber mit Raffinements gesättigte Kultur, dis der Genußfä¬
aus dem Volke, das sich von dem einer höheren Kaste angehörenden
higkeit, nicht der Tatkraft seiner Bewohner zugute kommt, viel¬
jungen Manne geliebt wähnt, nachdem er aber einer vornehmen
leicht auch ein aus Schnitzlers Herkommen resultierender semiti¬
Dame wegen im Duell gefallen ist, erfahren muß, daß sie ihm
scher Einschlag, das alles machte ihm zum Dichter der Lebens¬
nichts war, gut genug höchstens für eine flüchtige Liebelei, und an
freude, die immer in der verdrossenen Frage endet, wozu das
dieser Enttäuschung zu Grunde geht, diese Geschichte versteht man
alles? Das verdarb ihm den Geschmack und auch wohl den rich¬
auch, ohne von Wiener Leichtsinn und Sentimentalität etwas Be¬
#tigen Chick für die normale bürgerliche Ehe, sodaß er die Bezie¬
sonderes zu wissen. Schnitzlers spätere Probleme, die in ihren
hungen zwischen Mann und Weib fast nur vom Standpunkt des
technischen Ausführungen gewissenhafte Arbeit und strenge Selbst¬
sogenannten Verhältnisses aus betrachtet, das bringt ihn endlich
kritik nie verleugnen, sind, wie etwa das der reizvollen Künstler¬
zum Zweifel an Wert und Wirklichkeit des Daseins überhaupt,
komödie „Zwischenspiel“ nicht greifbar genug, mitunter auch zu
und Shakespeares Work: „Das Lehen ist ein wandelnder Schatlen
erkfügelt, um Dauererfolge zu erzielen. So bielel auch das Ver¬
mur, ein armer Spieler, der auf der Bühn' sein Stündchen
ständnis seines großzügigsten Werkes des Renaissancedramas
prahlt und lobt und dann nicht mehr gehört wird,“ gäbe ein pas¬
„der Schleier der Beatrice“ mancherlei Schwierigkeiten. Auf die
sendes Motto für die meisten seiner Dichtungen. Sicher ist am
Renaissance sah sich Schnitzler als Dichter des Wien von heute,
Ende nur: daß wir leben und einmal sterben müssen. Um Leben
von dem vieles hinübergreift auf das Florenz oder Bologna des
und Tod bewegt sich Schnitzlers Schaffen. Den Beginn freilich
16. Jahrhunderts, bei der Wahl eines geschichtlichen Stoffes na¬
bezeichnet die graziöse Leichtigkeit der sieben Einakter des „Ana¬
turgemäß verwiesen. Im Zeitkolorit ist das Stück von bewun¬
tol“, der aber, wie Schnitzlers Freund, Hugo von Hofmannsthal,
dernswerter Echtheit, aber die Art jener Beatrice Nardi, die in
in der Vorrede sich ausdrückt, kaum etwas anders gibt als „böser
einer Nacht die Geliebte eines Dichters, die Gemahlin eines Her¬
Dinge hübsche Formeln“. Sehr hübsche Formeln. Aus dem Stil
zogs, die Braut eines Handwerkers ist und alle zum Narren
dieses Erstlingswerkes spricht eine erlesene Wortkunst, in selbstver¬
hält, um zuletzt an einem Dolchstoß zu sterben, und in der Schnitz¬
ständlicher Nonchalance gleitet Rede und Gegenrede dahin, ohne
ler wohl den Geist jener Zeit in seiner Schönheit, Wandelbarkeit
ein Zuviel, ohne Gemeinplatz und geistvoll auch im Gewöhnlichen.
und seinem Lebenshunger darstellen wollte, diese Art kann man
Anatol ist der philosophierende Lebemann, seine erotischen Ge¬
eben nur auf Treu und Glauben hinnehmen; sie überzeugt nicht.
nüsse und Abenteuer hinterlassen getäuschte Hoffnungen, Schmer¬
In einem zweiten historischen Stück dagegen, dem Einakter „Der
zen und einen Rest jener nach Dauer im Wechsel tastenden Sehn¬
grüne Kakadu“, gibt er ein Vorspiel zur französischen Revo¬
sucht des besser gearteten Menschen. Und wenn somit in den Ge¬
lution von packender Gewalt. Wieder handelt es sich um das Le¬
sprächen zwischen Anatol, seinem blasierten Freunde Max und der
ben und seine Wirklichkeit, die den in frivolem Schein tändelnden
jeweiligen Geliebten, sei es eine Frau der Gesellschaft, eine Schau¬
Aristokraten des Paris von 1789 im Weinkeller des ehemaligen
spielerin oder ein süßes Mädel aus der Vorstadt, wenn darin die
Schauspieldirektors Prospere auf's surchtbarste zum Bewußtsein
Tatsachen an sich auch weiter nichts bedeuten als die herkömmlichen
gebracht wird. Die blasierten Damen und Herren finden einen
Banalitäten der Liebe, die Melancholie der Unzufriedenheit, die
ästhetischen Kitzel darin, sich das Elend des armen Volkes von den
über dem Buche liegt, erhebt es hoch über die Chambre=separée¬
Schauspielern Prospères vorspielen zu lassen und sich ungefährdet
Erinnerungen verwandter Art und empfiehlt es für stille Stun¬
zwischen Gaunern und Strolchen zu bewegen. Einer von diesen
den. Allerdings setzt es einen gewissen Grad des weltmännischen
jedoch macht das Spiel zur Wirklichkeit, indem er einen Herzog
Empfindens veraus, über das Schnitzler selbst verfügt. Diese
ersticht, der ihm die Frau verführte. Zugleich dringen die Ba¬
seine chevalereske Art zu denken, seine Diskretion im Heikelsten,
stillenstürmer in den Kelier. Mit dem alten Frankreich, dem
berechtigen ihn, ein Buch wie den „Reigen“ zu schreiben, eine an
alten Europa ist es vorbei. Die wuchtige Gedrungenheit dieses
zehn Menschenpaaren illustrierte Physiologie der Liebe in Dialog¬
in seinen Kontrasten genial gegebenen Stücks Geschichte hat
form, die, um einen Ausdruck Hebbels zu gebrauchen, den letzten
Schnitzler nicht wieder ereicht. Das Nachdenkliche überwog fortan
zwischen den Geschlechtern angängigen Prozeß behandelt. Selten
l bei ihm. Mit dem den Kunstdünkel gewisser Literatenkreise per¬
sind über die Nachtseiten menschlichen Trieblebens treffendere
siflierenden Schwank „Literatur“ tat er noch einmal einen lustig
Worte gesprochen worden. Der wissenschaftlich beobachtende
flotten Wurf, in den anderen drei Stücken des Einakterzyklus
Arzt und der die Seele durchschauende Dichter vereinigen sich hier,
„Lebendige Stunden“, die 1901 mit Ehren aufgeführt wurden,
letzte Erkenntnisse zu fördern, nicht aber durch Pilanterie zu un¬
vertiefte sich der melancholische Humor Anatols zur Trauer, und
terhalten. Daß sich das zunächst nur für Schnitzlers engeren
die Frage: Wozu das alles? wird zur resignierten Klage. „Wie
Freundeskreis bestimmte Buch an reise Menschen wendet, versteht
sich von selbst, es ist überhaupt nicht Schnitzlers Manier, populärj armselig sind doch die Leute, die auch morgen noch leben müssen.“