VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 35

2. Cuttings
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Selbst nicht, von außen weht es uns an-, Unser Selbst ist eine Metapher“,
Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlage, „Charaktere im
Drama sind nichts als kontrapunktische Notwendigkeiten-,Meine
Menschen sind nichts als das Lackmuspapier, das rot oder blau reagiert“.
Das ist sein Weltgefühl, daß der Mensch nur ein Schnittpunkt von
Lebenslinien, nichts an sich ist. Von der dumpfen Wonne, daß alles
uns durchschreitet, und von der noch dumpferen Trauer, daß nichts unser
ist, ja daß wir nichts sind, es sei denn ein wesenloser Knäuel von Be¬
ziehungen, sind all seine Sätze und Sänge voll, dies ist sein Ethos:
ihm entnimmt er seine trunkensten Ausweitungen, seine höchstgreifenden
Gesichte, aus ihm kommt die hoffnungslose Lähme, die nicht tun nur
dulden kann, die Empfänglichkeit, die nicht gebären kann, die Betäubung,
die bis ins Ruchlose des Zynismus führt, weil es keine Werte gibt wo
es kein Ich gibt, die Sorglosigkeit sich allem preiszugeben, weil kein
Ich dabei zerstört oder verloren werden kann, die stete Angst den Sinn
und die Fülle des Daseins zu versäumen. So hat er, ohne eine Not und
Richte in sich selbst, sich mehr und mehr der nächsten Bezauberung
dargeboten, mit den Jahren weiter abgerückt von der Mitte, durch Erfolge
selbst verlockt, sich mit immer Zufälligerem und Nichtigerem begattet,
zersetzt und erschöpft, die mißbrauchten Organe des Dichtens bis zum
Krampf aufgepeitscht, bis zum Taumel betäubt. Umsonst sucht er jetzt
das Leben von außen hereinzuleiten, das von innen nimmer quellen will.
Die Zeit seines (roos yanog, der Morgenschauer einer frisch erschlossnen
Welt, der selige Beginnerblick auf eine unverbrauchte Erbschaft ist vor¬
über für ihn, und er erkennt selbst schmerzlich, daß „Schnellsein nicht
zum Laufen hilft:.
So sieht es mit der konkreten Erfüllung aus, mit der Borchardt
George zurechtweisen will. Ubrigens wird er wohl jetzt selbst nicht mehr
frivol genug sein, den heutigen Hofmannsthal der Dialekt-Komödien und
Operetten-Texte der deutschen Jugend als Meister und Vorbild zu preisen.
(Nur darin weiche ich von der Anschauung Gundolfs ab,
daß mir ein Weib, welches sich mit immer Zufälligerem und
Nichtigerem begattet, seine Organe keineswegs zu mißbrauchen
scheint, jedoch ein Dichter auch durch die Gleichstellung mit
einem Weibe, das von seinen Organen den weisesten Gebrauch
macht, entwurzelt wird. Aber es verläuft hier und dort alles, wie die
Natur will, und ein weiblicher Dichter bringt sich so wenig herunter
wie ein Weib. Der Mann, dem man die Wahllosigkeit einer
empfangenden Psyche nachsagen kann, vermag wie das Weib nur
soziale Einbuße zu erleiden, aber nicht das in Gefahr zu bringen,
was man bei ihm mit Unrecht Persönlichkeit nennt. Auf dem
Abweg, den die Natur gewiesen hat, gibt es keine Verirrung.
Solches Dichten werde nicht mit dem weiblichen Sexualakt ver¬
glichen, sondern besser mit dem Surrogat hiefür, das von den