VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 47

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mit allen Fasern verwachsen mit dem Wienertum. So manche
kunserer heutigen Bühnen aber ist nur darum ein Wiener Theater,
weil sie zufällig in Wien steht.
Dadurch wird selbstverständlich auch die lokale Produktion
verschüchtert und abgeschreckt. Denn es ist nicht wahr, daß keind
Talente mehr da sind, das Wiener Stück zu pflegen. Aber was
damit anfangen? Es in der Schreibtischlade liegen lassen —
denn wo ist der Theaterdirektor, der mit Laubes Zähigkeil
ein solches Stück durchzusetzen entschlossen wäre, wenn es auch
im Anfang nicht ziehen würde? Freilich kommt da die Geldfrage
in Betracht. Ein Hoftheaterdirektor hat leicht „durchsetzen“, da es
nicht aus seiner Tasche geht wie beim Privatdirektor. Da müßte
also — heißt es dann gewöhnlich
— eine „Subvention“ herbei¬
geschafft werden. Aber woher? Aus öffentlichen Mitteln —
etwa vom Rathause her? Daß so ein Theater gleich von vorn¬
herein das Stigma eines „Parteitheaters“ aufgeprägt erhielte —
wie wir's ja am Währinger Jubiläums-Stadttheater und seinem
damaligen Zerteiler erlebt haben? Darum fehlt mir auch der
Glaube beim Hören der neuesten Botschaft von der auftauchenden
Phantasmagorie eines „Martinelli=Theaters“,
zzu welchem die Gemeinde Wien unentgeltlich einen
Baugrund herzugeben nicht abgeneigt wäre. Wo? In der
Fendigasse draußen, auf so ziemlich noch unbebautem Rayon, beim¬
Auslaufe der Motzleinsdorferstraße, wo das Publikum erst hin¬
gebaut werden müßte. Ein Gratisbaugrund hier wäre ein
Danaergeschenk für ein Theaterunternehmen, welches leider noch,
wie bemerkt, den Charakter der Unfreiheit, der Abhängigkeit von
der Parteizensur annähme. Stark klingende, willkommene Namen
müßten da als Garantiebieter gehört werden, wenn das Unter¬
nehmen nicht, beim besten und ehrlichsten Willen der Projektanten,
auf die schlimmsten und berechtigtesten Zweifel stoßen soll.
Wie also denn? Ein vergebliches Phantom, der Gedanke an
eine Neubelebung und Reaktivierung des Wiener Volksstückes,
seine Wiedereinsetzung in die natürlichen Rechte?
Im Gegenteil, die Zuversicht darf weiter gehegt werden, bei
Schaffung der richtigen Vorbedingungen. Frei und unabhängig
von aller Bevormundung müßte eine solche Bühne sein, mit einer
entschlossenen Leitung, die von der Ueberzeugung ausgeht, daß
auch der materielle Erfolg sich einstellen werde und müsse, weil
dieser schließlich der einzige wirkliche Beweis dafür ist, daß
es eine „Volksnotwendigkeit“ gewesen, der hier Rechnung getragen
worden und bei der man deshalb auch seine Rechnung gefunden habe.
Die dramatische „Wiener Volksmuse“, wie das „arme Hascher!“
mitleidig schönrednerisch genannt wird, ist wirklich noch immer
imstande, sich eine größere Wohnung zu bezahlen und nicht auf
ein bescheidenes, wenn auch noch so nettes „Kammerl“ angewiesen
zu sein, wie es ihr, zum Beispiel, „vor der Lina draußen“ das
nletzter Zeit schon öfters, und zwar ganz rühmlich genannte
kleine „Favoritener Volkstheater“ bietet, ein
Asylchen für das obdachlose „Wiener Stück“.
Kürzlich bekomme ich einen Brief von einem jungen
Wiener Autor, der da draußen seine erste Glückseligkeit des
Erfolges genossen, nach vielem vergeblichen Anklopfen an
Direktionstüren, und der mir nun gleichfalls über Freud und
Leid so eines Wiener Volksstückschreibers spricht. Ludwig
Janeczek=Johannes heißt der junge Mann und
„Die durchgegangene Frau“ das bis zu einer Jubiläums¬
vorstellung gediehene Liederspiel in einem Vorspiel und drei Auf¬
zügen, Musik von Theodor Klinger. Der ehrliche,
enthusiastische und doch
natürliche Ton
einfach
dem Schreiben hat mich angenehm
berüht und be¬
sonders die Art und Weise, wie er sich mir vorstellt: „Ich
bin ein bescheidener Privatbeamter, den ganzen Tag eingespannt,
auch am Sonntag, gedichtet wird nur in der Nacht, ich muß für
mein junges Frauerl sorgen, welches ja auch selbst fleißig fort¬
arbeitet" — aber der Ehrgeiz des bescheidenen Privatbeamten
möchte „Größeres leisten“, möchte „beihelsen zur Lösung der
Frage, wie dem Wiener Volksstück aufzuhelfen sei“. Und er
erzählt mir von dem Gedeihen des Theaterchens, welches,
so recht mitten im sozialdemokratischen
Stadtgebiete, doch
allmählich auch
schon sein bürgerliches Stammpublikum
gewonnen habe,
daß man sich manchmals um die
Sitze reiße, als wär's „zu einer Caruso=Vorstellung". Woraus
der Schreiber deduziert, daß hierin, wenn auch im kleinen nur,
ein Beweis liege für das Verlangen dichter Bevölkerungsschichten
nach einem richtigen, ausschließlich wienerischen Thealer.
Ich habe diesen Brief des darin vibrierenden Herzens¬
impulses wegen aus der Menge der Zuschriften herausgehoben,
die mir in der Sache des Wiener Volksstückes zu Handen kommen
und jedenfalls zeigen, daß die Frage viele Köpfe in Wien be¬
schäftigt und nicht den letzten Plotz auf dem Wiener Fragebogen
einnimmt.
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