VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 51

2. Cuttings box 37/5
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
damburger Correspondont
Ausschnitt aus:
Hamburg
vom: 15. MAERZ 1914
## Oesterreichische Drola.
Von Dr. Albert Ehrenstein.
Die bisher aus Scheingründen repräsentativ standen für die
etische Prosa Deutschösterreichs, die Schnitzler und Bartsch,
haben leider nachgelassen oder wurden erkannt, agnosziert. Hier
sct die Rede von einigen weniger bekannten Autoren, die im
Guten wie im Bösen, mit und ohne Allüren, ihr Land in inter¬
essanterer Weise vertreten, stillvoll oder lediglich hartzugreifend
Probleme gestaltend erörtern und über sie hinwegschreitend viel
Geistigkeit exakt versinnlichen.
Man muß dem jungen Dichter Ernst Weiß mehr als ein
Wohlverhaltenszeugnis ausstellen, er hilft die literarische Ehre
der Stadt Wien retten, die — außer den Werken des begabten

lichen Konflikt und Thema dieser zwingend vollendeten Erzahlung
irgendwie näher zu kommen. Eine neue und gute epische Dichtung
muß notwendiger Weise mehr sein als die sänberliche Erledigung
eines Spezialfalles. Wenn ich sagte: Herr Doktor Erik Gylden¬
dal, Röntgenstrahlenbeobachter, Privatdozent und Held der
„Galeere“, wird mit Leib und Seele aufgefressen von seinem
Beruf, gäbe ich nur scheinbar den äußerlichen „Inhalt“ des mei¬
sterlichen Buches an. Gewiß: auch an Erik Gyldendal wird sicht¬
bar die fürchterliche Zweischneidigkeit jeder Tätigkeit. Er legte
sich eine Wissenschaft bei, legte sich in sie, sie stärkte ihn, gab ihm
aber sie war auch ein
das Rückgrat, das den Erfolg schafft
Speer, der Wunden heilte um sie dann desto tiefer zu schlagen.
Jedenfalls ist „Die Galeere“ mehr, viel, viel mehr als ein
landläufiger, süßholzraspelnder Jungwienerroman, es ist ein
modernes Buch von Mannestod und Liebe; sein Held gibt sich
in einer so sonderbar klar fiebernden Dumpfheit der Liebe und
dem Tode hin, daß diese dämonische Schicksalsgebundenheit in
ihrer antiken und doch neu belebten Größe und schauerlichen
Schönheit auf jeden Empfindungsfähigen nur in hohem Sinne
tragisch wirken kann.
Erik Gyldendal lebt, oft sich aufbäumend und doch fatalistisch,
mit großer Anfangsgeschwindigkeit (und schließlich der ergedenen
Frömmigkeit der Todesschwäche) arbeitsam dahin unter der Peit¬
sche der Urkräfte, er könnte, wie wenige, mit dem griechischen
Tragiker von sich bekennen: ###n &rznnal #o# k##n ##. Ja##ro !
Nur daß er, von seinem Ehrgeiz gehetzt wie ein Galeerensträf¬
ling, gerne außerdem und vor Allem auch noch die Zeit, den Tod
durchbrechen, mit seinen Forscherarbeiten in die Ewigkeit ein¬
dringen, dem Leben egoistisch nur ein Minimum zodieren möchte.
Aber Ernst Weiß, sein Schöpfer, ein Moralist wie alle großen
Künstler läßt ihm das nicht angehen, hält den excentrischen
Herrn Gyldendal gerechtermaßen, was den Lebensfaden anlangt,
kurz: der Dozent zerschellt zur Strafe für seine sadistischen Kom¬
ponenten.
Ueber die Fabel des Romans möchte ich nicht
mehr angeben, er verdient keinen excerpierenden Hinweis, son¬
die sich die Leserschaft Deutschlands sonst nur dann automatisch
einstellt, wenn sie sich durch einen anerkannten Namen zur Er¬
issenheit verpflichtel fühlt.Nur- so viel sei noch ausgesagt:
Ernst Weiß gibt bei der das Innerste und Aeußerste bloßlegenden
Schilderung der Eltern und Geliebten Gyldendals mehr an ge¬
staltender Leidenschaft aus, als sonstwer in Deutschland — Hein¬
Und
richMann vielleicht ausgenommen — zu vergeben hat! ..
hüter dem impulsiven Menschenkneter steht ein mit ärztlicher
Exaktheit arbeitender Psychologe. Und außerdem ist Stil, Lyrik,
Poesie in diesem dichterisch geschwungenen Buche. .. Da gibt es
kernweiche Stimmungen und tadellos vergiftete Dissonanzen.

Nicht fehlt die verstehende und gütig alles wissende Mensch
eines Denkers und die Temperamentfülle des Weltverbe
der beispielsweise gegen den Mißbrauch der als Allheilmitte
trachteten Erotik wettert. Man lese dieses musikalische, naturnahe
Buch eines Städters. Es ist kein halbes Versprechen, kein Erstling
selten gelang.
Ist Ernst Weiß ein moderner Wiener Epiker, der vielleicht
ohne Balzac, Flaubert, Zola, Maupassant, Schnitzler denkbar,
aber diesen Dichtern gewiß wie jeder heutige Erzühler irgendwie
verpflichtet ist, so wahrt Otto Stoeßt die historische Ent¬
wicklung und Kontinuität nach einer österreichischen Richtung
hin; in ihm ist das Behagen am säuberlichen Detail des reinsten
in ihm kräuselt sich anmutig die Lust am Abenteuerlichen des
austroamerikanischen Fabulierers Charles Sealsfield, in ihm
waltet die gar nicht dörperhafte Zuneigung Ludwig Anzengru¬
bers zu allen Ländlich=sittlich=idyllischen. Nicht daß diese „Be¬
standteile“ in Otto Stoeßls neuester (von Georg Müller
edierter) Erzählung „Was nützen mir die schönen
Schuhe“ erweislich, ja auch nur ahnbar wären! Im Gegenteil:
Stoeßl ist kein Epigone und mit allerlei Einflüssen erblich Be¬
lasteter. Aber, wer einen Bücherkasten kat, kann Stoeßls Werke
nicht gut anderwärts einordnen als zwischen den Bänden besagten
Erzählkünstler Danubiens.
Schon das Proömium übt eine außerordentlich beruhigende
Wirtung auf den Leser.
Alle Bücher Stoeßls haben eine
Neigung zum Schelmenroman, schmackhaft und herzhaft wie sie
sind, wäxen sie das beste Gegengift gegen die beliebte Wiener
Raunzeret und die erstickende Melancholie, die den Stilübungen
jüngerer Schwarzgelbseher entsteigen muß. Seine lieben Gestal¬
ten haben einen angenehmen Stich ins Schnurrige, er hietet Epil
an sich, ohne „Probleme“ und aufreizend kuriose Vorgänge, is
unterhaltlich innerhalb des Literarischen, der Formkunst. Diesmal
wohl zwischen den Schlachten — liefert er ein ergötzliches Zwi¬
schenspiel, in dem die Episodenranken, ohne zu überwuchern, das
Interessanteste, Amüsant=Lostigste sind. Da ist die verdammt
fragwürdige „Wittib“ Tora Obweger und allerhand männliche
Jugend, die an ihr vorübergeht, entweder die „Gefehlte“, ein
noch noemaleres Weib heiratet, oder, ohne den letzten festen Griff
zu besitzen, sich irgend einem Tabakhandel ergibt. Zuletzt kommt
natürlich die bürgerliche Ehrbarkeit in Gestalt eines Herrn Mathe¬
matikprofessors, der den Springinsfeld Tora in Schwarz kleidet
und sie als aber schon sehr angetraute Ehegattin heimführt. Doch
— mit strengen Perspektiven zwar ab und¬
wie hinreißend lustig
zu geschmückt und ernsten Ausblicken ins unabänderliche Leben —
diese muntere, schlichte Geschichte erzählt ist! Ich halte Otto
Stoeßl, unerachtet seiner scheinbaren, nämlich gespielten Trocken¬
heit für den stärksten und feinsten Humoristen unter den Deut¬
schen von heute.