VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 70

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2. Cuttings
lch für Goethe in seinem Erlebnis mit ihr nicht etwa auch ein ganz merkwürdiger, krankhafter
Hang zur Exhibition zeige. Denn hat man sich diese
anzmeisters und für Motive der
Methode einmal angeeignet, wird sie überall zum im
ken“ wie für Hebbel diese Methode an¬
voraus bestimmten Resultate führen. Beweis dafür die
ird vielleicht nicht mehr lange dauern,
üppig wuchernde psychoanalytische Literatur. Soweit je
analyse das Bild der deutschesten
nicht medizinisch ist, haftet ihr etwas Langweiliges an,
später vielleicht auch die Denker ge¬
weil sie ja naturgemäß nichts Neues bringt, sondern nur
übermalt mit den rohen Konturen
nachträgliche Erhärtungen einer abgöttisch verehrten
wußter Empfängnis.“
Theorie.
empört sich unser ganzes Empfinden,
Interessant ist also einzig und allein die Methode.
m Künstler und vorm Kunstwert und
Geschmack gegen eine derartige Be¬
Dr. Reik beruft sich auf das bekannte Vorgehen Iwan
Lermolieffs (Pfeud. f. Giovannt Morelli), der aus der
in ihrem kalten, höhnischen Zynismus
Eigentümlichkeit eines Malers, scheinbare Kleinigkeiten,
r Wissenschaft einen sonderbaren Aus¬
Zehen= und Fingernägel, diese kleinen Glieder selbst, ihren
r“ darstellt, der aber auch nicht auf un¬
Ansatz u. a. darzustellen, auf den Autor eines Gemäldes
gediehen ist, mit deutschem Empfinden
schloß und oft zu überraschenden Ergebnissen kam. Ge¬
tun hat und auch trotz unserer Anlage
radeso geht Dr. Reik von scheinbaren Kleinigkeiten,
en, für jedes gerechte Prüfen nie
Traummotiven, im Dialog verschwindenden Aeußerungen
issen können. Hier sträubt sich selbst
und dergleichen aus und kommt zum charakterisierten
mpfindende und geschulte Leser, der den
Resultate, freilich oft nur mit den gezwungensten Kom¬
bjektivität zu wahren und auf alles
binationen. Auch was er, wenn er auf rein physiologischem
aive Leser aber wird das Buch kaum
Boden bleibt, über das unbewußte Schaffen des Drama¬
d wenn er nicht genug Festigkeit besitzt.
tikers zu sagen weiß, befriedigt nicht. Vielleicht aber gäbe
abzuwehren, wird ihm dauernd etwas
es gerade auf dem Gebiete des Dramas ein Problem,
rben sein. Psychoanalytiker natürlich
das die Psychoanalyse aufhellen könnte, ich meine
mitleidigen Lächeln derartige Erwä¬
vieldentigen und vielgedeuteten Begriff der
den
berden für jeden Widerstand gegen ihre
Bei dieser Methode
Aristotelischen Katharsis.
ble Erklärung finden und sie in irgend¬
denkt man an andere Forscher, die außerhalb der
Veranlagung des radikalen Skepti¬
günstigen Literaturforschung ebenfalls ausgehend vom
dvon vornherein den Alleserklärern
Kleinen, Unbedeutenden ins Innere vorzudringen suchten
kk erscheinen. Aber man fühlt sich
und doch zu wie befriedigerendem Ergebnis kommen, etwa
nd und versucht, einmal die Waffen
Chamberlain in seinem „Goethe“ oder Julius Hart in
gen diese selbst zu kehren und einem
seinem „Kleistbuch“. Da empfangen wir ein neues, ge¬
Raum zu gewähren, ob sich denn in
schlossenes, äußerst vollständiges Ganzes, eine reiche An¬
schauung. Dort aber wird alles zerrissen und zersetzt. Man
en Inhalt der „Zeitschrift für Anwen¬
glaubt im Seziersaal zu sein und nicht beim Deuter des
alyse
die Geisteswissenschaften
Dichters. Ueberall nur Analyse, nirgends auch nur An¬
r zweite Jahrgang im Erscheinen be¬
sätze zur Synthese. Oft weiß man nicht, will uns Dr. Reik
eine medizinische oder eine ästhetische Erkenntnis ver¬
mitteln; schließlich erfährt man, es sei das „Typisch¬
Menschliche“. Zumeist wohl aber ist ihm das Kunstwerk
nichts anderes als Mittel zum Zweck, nichts anderes als
Materialsammlung. Wir verachten heute eine Kunst¬
betrachtung, die mit einem fertigen Maßstabe herantrat.
Es droht eine ganz andere Barbarei, im Kunstwerk
von vornherein nur einen Niederschlag schmutzigster
Amalgamierungen sehen zu wollen. Triumphierend
deutet der Antor auf die Worte des Dichters und
bringt sie zur Deckung mit denen Freuds. Daß damit
nur wieder die Psychoanalyse gewonnen hat, nicht aber das
Verständnis des Kunstwerkes, liegt auf der Hand. Die
Lektüre des Buches spannt auf die Folter. Mit einer pein¬
lichen, einer unleidlichen Vorurteilslosigkeit werden dem Texte
die schamlosesten Geständnisse entpreßt, um nur ja die
„Vorbildlichkeit des Sexuallebens für die übrige Lebens¬
gestaltung" zu erweisen, die Dichtung als eine „plastisch
dargestellte Wunschbefriedigung verdrängter Regungen“ er¬
scheinen zu lassen.
Das Buch charakterisiert eine ganze Gattung. Gäbe
es sich als das, was es ist, auch ein Versuch, dem Ge¬
heimnis der Dichtung nahezukommen, einen kleinen Stein
zum Ganzen zu liefern, könnte man sich mit ihm ausein¬
andersetzen. So aber führt es sich bescheiden ein und
glaubt dann doch, den Stein der Weisen gegeben zu
haben. Es wird uns versichert, alle bisherige Literatur¬
betrachtung sei „vornehme Handlangerarbeit". Sie war
reinlicher, geschmackvoller.
Man hat Rembrandts „Anatomie“ vor Augen, diese
wunderbare, künstlerische Synthese menschlich notwendiger
Analyse. Dr. Reiks Buch gleicht einem Ausschnitt daraus,
ist wie der zerfaserte, zerfleischte Arm des Leichnams.
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