VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 69

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sein, wird sich auch in vielen Fällen leicht nachweisen
lassen. Tatsache ist, daß nur durch die schlauesten und ver¬
kniffensten Mittel scharfsinniger Logik diese Elemente
wieder aufgespürt werden können von dem, der eigenfinnig
danach sucht. Wie aber diese belanglosen Kleinigkeiten
(scheinbar belanglos, sagt der Psychonalytiker) so verdrängt
und beiseite gestellt wurden, das wird umgangen. Daß
dabei nur durch Konvention und Erziehung notwendig
gewordene Verdrängung im Spiel gewesen sei, wird man
uns nicht weismachen wollen. Kurz, vom dichterischen
Prozeß wird uns nur der dunkelste und erste Anfang vor¬
gehalten. Dr. Reik selber sieht sich einmal veranlaßt, das
einzugestehen. „Wie viel Anteil,“ sagt er, „an der Kon¬
zeption das bewußte Denken, wie viel das unbewußte
hatte, ob künstlerische oder ethische Gründe bei solcher Um¬
gestaltung wirksam waren, entzieht sich naturgemäß unserer
Kontrolle.“ (S. 158 ff.). Was der Dichter von seinem Be¬
wußtsein und Gefühlsinhalt zum unbewußt Gegebenen
hinzutut, was er von seiner Persönlichkeit, von seiner
Seele damit verquickt, was er davon ins Kunstwerk über¬
gehen läßt, besser gesagt, wie diese Elemente, die, wie wir
erfahren, in der Seele des Neurolikers ebenso vorhanden sind,
wie sich ##ese in eben dieser Seele wandeln, Form und neuen
Gehalt gewinnen, darüber herrscht Schweigen. Nur im Ab¬
schnitt „Reigen und danse macabre“ hat Dr. Reik den Ver¬
such gemacht, die Kunstform aus dem Grundgefühle der Dich¬
tung abzuleiten. Sonst finden wir nur eine Jagd nach
„Aufzeigen“ perverser sexueller Gefühle, Wünsche und Ge¬
danken. Umsonst werden wir darüber beruhigt, daß ja das
alles auch in uns schlummere. Ich glaube nicht, daß durch
diese grelle Beleuchtung, einseitig einfallend, wirklichem
Verständnis auch nur des Grundgehaltes entgegenkommen¬
der Kunstwerke gedient ist.
Die Dichtungen Schnitzlers reizen vielleicht manchmal
zu einer derartigen Betrachtung. Soll die neue Methode
aber der Stein der Weisen sein, den die erschöpfte Lite¬
räturbetrachtung endlich gefunden hat, muß sie überall zu
Ergebnissen kommen und überall anzuwenden sein. Tat¬
S
sächlich hat man auch für Goethe in seinem Erlebnis mit
den Töchtern des Tanzmeisters und für Motive der
„Wahlverwandtschaften“ wie für Hebbel diese Methode an¬
gewendet und es wird vielleicht nicht mehr lange dauern,
bis uns die Psychoanalyse das Bild der deutschesten
unserer Dichter und später vielleicht auch die Denker ge¬
fälscht haben wird, übermalt mit den rohen Konturen
allererster und unbewußter Empfängnis.“
Ich glaube, es empört sich unser ganzes Empfinden,
unsere Ehrfurcht vorm Künstler und vorm Kunstwert und
nicht zuletzt unser Geschmack gegen eine derartige Be¬
trachtungsweise, die in ihrem kalten, höhnischen Zynismus
unter dem Mantel der Wissenschaft einen sonderbaren Aus¬
wuchs unserer „Kultur“ darstellt, der aber auch nicht auf un¬
serem deutschen Boden gediehen ist, mit deutschem Empfinden
und Denken nichts zu tun hat und auch trotz unserer Anlage
für jedes Theoretisieren, für jedes gerechte Prüfen nie
recht wird Wurzel fassen können. Hier sträubt sich selbst
der wissenschaftlich empfindende und geschulte Leser, der den
guten Willen hat, Objektivität zu wahren und auf alles
einzugehen. Der naive Leser aber wird das Buch kaum
zu Ende bringen, und wenn er nicht genug Festigkeit besitzt,
die neuen Einflüsse abzuwehren, wird ihm dauernd etwas
verdeckt und verdorben sein. Psychvanalytiker natürlich
werden mit einem mitleidigen Lächeln derartige Erwä¬
gungen abtun, sie werden für jeden Widerstand gegen ihre
Theorien eine plausible Erklärung finden und sie in irgend¬
einer neurotischen Veranlagung des radikalen Skepti¬
kers suchen. Er wird von vornherein den Alleserklärern
verdächtig und krank erscheinen. Aber man fühlt sich
vielleicht ganz gesund und versucht, einmal die Waffen
der Psychoanalyse gegen diese selbst zu kehren und einem
ganz leisen Zweifel Raum zu gewähren, ob sich denn in
* Vgl. nmtl. den Inhalt der „Zeitschrift für Anwen¬
dung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften
„Imago““, von der der zweite Jahrgang im Erscheinen be¬
griffen ist.
ihr nicht etwa auch ein ganz merkwürdiger,
Hang zur Exhibition zeige. Denn hat man
Methode einmal angeeignet, wird sie überall
voraus bestimmten Resultate führen. Bewei¬
üppig wuchernde psychoanalytische Literatur.
nicht medizinisch ist, haftet ihr etwas Langwe
weil sie ja naturgemäß nichts Neues bringt.
nachträgliche Erhärtungen einer abgöttisch
Theorie.
Interessant ist also einzig und allein di
Dr. Reik beruft sich auf das bekannte Vorg##
Lermolieffs (Pseud. f. Giovannt Morelli), der
Eigentümlichkeit eines Malers, scheinbare Kl
Zehen= und Fingernägel, diese kleinen Glieder
Ansatz u. a. darzustellen, auf den Autor eines
schloß und oft zu überraschenden Ergebnissen
radeso geht Dr. Reik von scheinbaren Kl
Traummptiven, im Dialog verschwindenden Ac
und dergleichen aus und kommt zum char
Resultate, freilich oft nur mit den gezwungen
binationen. Auch was er, wenn er auf rein phy
Boden bleibt, über das unbewußte Schaffen di
tikers zu sagen weiß, befriedigt nicht. Vielleicht
es gerade auf dem Gebiete des Dramas ein
das die Psochoanalyse aufhellen könnte,
den vieldentigen und vielgedeuteten
Bei dieser
Aristotelischen Katharsis.
denkt man an andere Forscher, die auß
günstigen Literaturforschung ebenfalls ausge
Kleinen, Unbedeutenden ins Innere vorzudring
und voch zu wie befriedigerendem Ergebuis kom
Chamberlain in seinem „Goethe“ oder Juliu
seinem „Kleistbuch“. Da empfangen wir ein
schlossenes, äußerst vollständiges Ganzes, eine
schauung. Dort aber wird alles zerrifsen und zer
glaubt im Seziersaal zu sein und nicht beim
Dichters. Ueberall nur Analyse, nirgends auch
sätze zur Synthese. Oft weiß man nicht, will un