VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1914–1920, Seite 6

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uns der Schaum des Champagners, den wir vergnüglich
allen Theaterstücken: Nichtswürdig ist die Nation, die
schlürfen in Gesellschaft des Chefs der Claqueure und
nicht ihr Alles setzt an ihre Ehre“ — „Das Leben ist der
der anständigsten Damen. Wir essen, trinken, werden
Güter höchstes nicht, der Uebel größtes aber ist die
applaudiert, ausgepfiffen und vergessen, während ihr in
Schuld“? Wurde nun auf der Bühne die Kultur der
den Revuen beider Welten gefeiert werdet und der Wahrheit und Freiheit, des höheren Geisteslebens und
erhabenen Unsierblichkeit entgegenhungert.“
der höheren Rechtsordnung, in deren Namen die Söhne
der Heimat an die Front zogen, dem Feinde, dem Tode
entgegen — wurde diese Kultur auf den Bühnen des
Um sich des ganzen Theaterelendes der letzten Jahr¬
Hinterlandes entsprechend repräsentiert? Wurde nun
zehnte bewußt zu werden, muß man sich vergegen¬
auch im Theater jener Gott gepriesen, in dessen Kathe¬
wärtigen, was Führer alter und neuer Menschheits¬
dralen und Kirchen ein gramgebeugtes, ein hilfeheischen¬
kultur an die Bühne für Voraussetzungen und An¬
des Volk sich drängte? Wurden nun auf der Bühne die
sprüche geknüpft haben, welches ihre Ideale von
dramatischer Kunst waren. Im siebenten Buch der Heldengestalten der Geschichte lebendig, wurden die
Heroen der Vergangenheit zu Sprechern und Führern
„Gesetze“ von Plato ist die Rede von Tragödiendichtern,
der Gegenwart? Erklang nun der Sang von der Hei¬
die in eine Stadt kommen und um die Erlaubnis, ihre
mat auf der Bühne, der Sang von der Heimat mit jener
Dramen aufführen zu dürfen, bitten. Plato läßt den
Zärtlichkeit, Inbrunst und Opfertoilligkeit, aus der
Ansuchenden durch die Stadhäupter die Antwort
ein Garczynski schwur: „So lange diese Hand
werden: Wir selbst sind Dichter eines Dramas, insofern
nicht erstarrt, soll diese Hand dem Vaterland
unsere Staatsverfassung in der Nachahmung des schön¬
gehören. So lange der Gedanke nicht stirbt,
sten und besten Lebens besteht. Den gleichen Zweck muß
soll er ihm geweiht sein. Gott, Du verlangst Opfer —
das wahrhafte Drama verfolgen. Wähnt daher nicht,
meinen Geist will ich zum Opfer geben, mein jetziges
daß wir euch ohne weiteres gestatten, eure Schaubühne
und zukünftiges Leben. Ich will wie das Volk in der
auf unserem Markt aufzuschlagen. Vorher muß die zu¬
Wüste hungern, wenn nur damit dem Vaterlande ge¬
ständige Behörde prüfen, ob ihr Schickliches gedichtet
holfen werden kann. Jeder Gedanke soll fromm sein
habt, ob die Ziele und Bestrebungen in euren
wie eine Hymne, meine Zunge soll den Lippen Worte
Werken mit den Tendenzen unserer Staatsver¬
Deines ewigen Lobes reichen, in Gebeten will ich die
fassung übereinstimmen. Wir und der ganze
Nächte durchweinen, die Tage in Qualen zubringen, nur
Staat müßten völlig von Sinnen sein, wenn wir eure
möge mein Land befreit sein ...“ War nun auf der
Schauspieler etwa Gegensätzliches zum Geiste unserer
Bühne ein Triumphieren über die Siege der echten
Einrichtungen reden ließen. Aristoteles erklärt in seiner
Kultur, ein tröstendes, befreiendes Mitweinen mit
„Politik“, das Aufführen und Beobachten unsittlicher
den leidtragenden Opfern des Krieges? Raunte es nun
Bühnendarstellungen müsse aus dem Staate verbannt
auch im Theater: „Jedwede stille Minute mahnt's:
sein. Die Gesetzgeber müßten überhaupt, wenn irgend
Menschen sind jetzt in Not; jede stille Minute ahnt's:
etwas, so schändliches Gerede aus dem Staat verbannen,
Brüder schlägt man dir tot. Nichts denken, als dies und
weil bei leichtfertigen Reden auch schlechte Handlungen
immer dies: Menschen in Not, Brüder dir tot, Krieg ist
nahelägen. Im Mittelalter bekunden Thomas von Aquin
im Land ...?“ Sind angesichts des Krachens einer
und Bonaventura viel Verständnis für das Theater.
Welt, angesichts des großen Sterbens, ange¬
Sie lassen auch Stücke bloß unterhaltenden Charasters
sichts der Leichenfelder und der zertrümmerten
gelten. Ludus est necessarius ad conversationem
Städte, der obdachlos gewordenen Bevölkerungs¬
Das Spiel hat notwendige
vitae humange.
massen und der verkrüppelten Brüder die geist¬
Berechtigung im täglichen Leben sagt ersterer;
losen Phrasendrescher und Witzmacher von der
letzterer meint, Erhebung und Erfreuung finde der
Bühne verschwunden? Hat man auf der Bühne die
Mensch im Theater. Aber bei beiden ist Voraussetzung,
großen Opfer und Leiden der Zeit geachtet? Hat die
daß der Geist des Spiels im Einklang mit den sozial¬
große Zeit die große Kunst auf den Theatern erstehen
ethischen Gedanken des Christentums stehe. In Paris
lassen? — Als einst griechische Kultur schon im Nieder¬
gab es gegen Ende des 17. Jahrhunderts einen Theologen¬
gang begriffen war, schrieb Aristophanes sein Lustspiel
kampf wegen der Bühne. Leibniz verteidigte damals die
„Die Frösche“, welches das Thema „Theater in der
Theaterkünstler in einem Epigramm, in den es heißt: „Wißt
Kriegszeit“ behandelt. Athen ist wieder einmal in Ge¬
ihr wohl, daß in unserem Jahrhundert ein Moliere so gut
fahr, vom Feinde bedroht. Was soll in solcher Zeit
wie ihr Theologen die Menschen erbauen darf? Das
— das ist der Inhalt der Komödie — den Athenern auf
Laster fühlt den scharfen Spott des Dichters und geht in sich.
der Bühne geboten werden, den Athenern, an die der
Um Frankreich zu reformieren, braucht man entweder
Appell zur Rettung der Heimat ergeht? Nichtigkeiten
die Komödie oder die Dragonaden.“ Es ist offenkundig, daß
der Gegenwart kommen nicht in Betracht, nur Klassiker
hier idealistische Dramatik verteidigt wird. Friedrich
der Vergangenheit. Es wird eine Deputation in die
Schiller äußert sich in einer weltbekannten Abhandlung
Unterwelt geschickt, die sich bei der Frage: wen sollen
absällig über ein Schauspiel, das nur Zeitvertreib ist,
wir mitnehmen? schließlich vor der Wahl: Aeschylus
nur dazu dient, die Langeweile zu beleben, unfreundliche
oder Euripides findet. Aeschylus ist der Sänger der
Winternächte zu betrügen. Die Kunst müsse, zumal in
Götter und Helden, der Frömmigkeit und Tapferkeit;
großer Zeit, einen höheren Flug versuchen, solle sie nicht
Euripides der hochbegabte, wortgewandte Künder süßer
von der Bühne des Lebens beschämt werden. Seine
menschlicher Triebe und Leidenschaften. Die Deputation
Forderung, sein Ideal ist ein Schauspiel, das den
entscheidet sich für Aeschylus; er allein scheint würdig
Menschen richtigere Begriffe, gelänterte Grundsätze,
inster Zeit als Dichter und Künstler
und ber###
reinere Gefühle vermittelt, das Irrin edeu Erziehung
then zu sprechen. — Moderne Theater¬
zum
nichen
bekämpft, den Erfindungsgeist anregt, #iche,
dirhoben sich in blutigster Zeit ganz und gar
durch Aufzeigen einer Idealwelt über den nu 1 der
zur Höhe spätgriechischen, aristophaneischen Kul¬

wirklichen Welt hinweghilft.
fürgeistes. Es blieben der Mehrzahl nach die alten,
faden, faulen, frechen Stücke auf ihrem Spielplan —
Die ganz große Bühnenkunst aller Zeiten stand
zum Aergernis aller Patrioten, zum Verdruß der Ver¬
immer im Zeichen solcher Forderungen und Ideale. Ein
bündeten, zum Spott des Auslandes, zum Ergötzen der
Aeschylus, Calderon, Lope de Vega, Schiller, Richard
gewissen Gesellschaftsschicht, welcher der Krieg nur eine
Wagner reden wie Priester und Propheten. Sophokles,
interessante, die Nerven reizende Abwechslung und im
Shakespeare, Racine und Goethe zeigen den Menschen in
übrigen eine ausgezeichnete geschäftliche Konjunktur ist.
all seinen Schwächen, aber noch mehr in all seiner
Ein einziges Beispiel: Das k.=k. Burgtheater in Wien
Größe und in all seinen Pflichten. Aristophanes und
Moliere sind scharfe Kritiker, voller Spott und Sarkas= führte an den ernstesten Tagen der Karpathenschlacht,


Adelige haben darauf gedrungen,
Adel und Ehre nicht nur in Schl
sondern auch in der Welt des The
gegengebracht werde? Wie viele Ch
daß das Christentum nicht nur ei
und Sakristei, sondern ein Prograf
rung für alle Lebensgebiete, auch
sei? Wie viele Steuerzahler hab
erwogen, die darin liegt, Riesenst
dung von Geistlichen und Lehrern,
Kirchen und Schulen für die Erziehn
zwerfen und gleichzeitig zu gestait
literarische Handelsleute sich aus d4
Früchte von Schule und Kirche ein
schäft machen? Wie viele gutmein
haben angesichts der frechen Anarch
nen an das unheimliche Bild sich
Taine die Macht und den Weg um
schildert: Im ersten Stock des Hause
bloß Abendbeleuchtungen, Salon
Feuer, mit denen man spielt und d
dem Fenster wirft. Aber in den #
schäftsräumen des Erdgeschosses stech
Stoffe in Brand — und im Kelle
Pulverlager...? Wie viele Schön
künstlerischer Erbauung sich Sehnen
unablässig gegen das Aufrichten vo
Spelunken auf der Bühne protestiel
sich geweigert, mit dem Trost eines
abzufinden: „Wer die gemeinsame
höchsten Geistespflege versammelt
möchte, oder auch nur das erheben
schenwürdiger Körperhaltung: der
das Theater, sondern in den Köln
besser in eine Dorfkirche, selbst w#
Gottheit mehr glaubt. Ohne Spott:
ist heute das einzige Surrogat für d
monie, die einst aus Spießbürgern
Stalljunkern Herren der Welt
Hoffen wir auf die Ergebnisse
Tausende sind im Schützengraben,
täglicher Entbehrung, aus Spieler
Kurzsichtigen geistig Reife und An
den. Die werden, heimgekehrt, au
Ideen nicht mehr verhöhnen lassen,
aufleuchteten und die ihnen Schutz
wurden. Tausende, durch den Anbl
und Trümmerstätten, der ruinier#
der weinenden Waisen im Innersten
geweckt, werden nicht ruhen, bis au
wieder zu jenen Idealen bekennt,
so viele Opfer verlangte, und deren
Segen des Himmels auf die Heimat