2. Cuttings
box 37/6
S·11 1919
Prager iegblatt, Pran
Das Ende des Müßiggangs.
&5 Prag, 7. Feber 1919.
Der jahrelange Zwang, der den Bürger ins
Kriegskleid steckte, ist geschwunden; die Menschheit
wird sich über kurz oder lang wieder in Zivilisten
verwandeln und nicht mehr dem Maschinengewehr¬
feuer entgegenlaufen oder mit aufgepflanztem
Bajonett auf Bahnhöfen Wache stehen müssen. Mit
diesem, nun erledigten Zustand verglichen ist jeder
andere glückselig zu nennen; aber ein Paradies
wird, nach diesen Jahren der Zerstörung, die Welt
trotzdem nicht werden. Zum Begriff des Paradieses
gehört nun einmal die Freiheit von der Verpflich¬
tung, eine Arbeit verrichten zu müssen, außer wenn
sie zugleich ein Vergnügen ist. Ein solch schönes
Reich ist nun die Welt auch vor dem Krieg nicht
mehr gewesen, wie überhaupt die Entwicklung von
den Urzeiten her stetig den Weg von der Arbeits¬
losigkeit zur Arbeit genommen hat. Aber es gab
noch eine stattliche Anzahl von Menschen, ganze Ge¬
sellschaftsklassen, die, unberührt vom Zwang zu be¬
ruflicher Tätigkeit, ein wohlig durchwärmtes Da¬
sein führten, in dessen Klima eine Art besonderer
Kultur gedieh. Oesterreich namentlich war es,
dessen nicht nur begüterteste Schichten sich vielfach
den Luxus gestatten durften, nichts zu tun, als ihr
Leben zu leben, berufsmäßige Genießer zu sein
Diese mit der berühmten Schlamperei eng zusam¬
menhängende seelisch=kulturelle Eigentümlichkeit,
an der übrigens alle Nationen des Staates teil.
hatten, hat dem alten Oesterreich jenen Charakter
gegeben, der es zum Gegenstand einer wohlwollen¬
den Geringschätzung gemacht hat. Aber mit der
Donaumonarchie ist auch die alte Welt der Gemüt¬
lichkeit untergegangen und die neue Zeit scheini,
wenn auch frei von der täglichen Trdesgefahr, doch
eine härtere Zeit werden zu wollen. Sie muß, wie
mit so vielen anderen luxuriösen Dingen, auch mit
dem Recht auf das Nichtstun aufräumen, und schon
hat die tschechische Regierung einen Gesetzentwurf
eingebracht, der die Arbeitspflicht einführt. Für
die Müssiggänger werden bittere Tage kommen.
Keinem ernsten Menschen wird es einfallen,
die Nützlichkeit, die Notwvendigkeit eines Arbeits¬
pflicht=Gesetzes zu bezweifeln, seine nicht nur
e, sondern auch moralische Bedeutung zu be¬
n. Es ist nicht mehr als eine ironische Senti¬
lität, wenn uns eine wehmütige Erinnerung
Zeiten beschleicht, da selbst mäßig bemittelte
schen ihre Tage in der angenehmen Dämme¬
des Kaffeehauses, bei Spiel und Gespräch ver¬
igen durften. Es waren nicht die dümmsten und
pfsten Menschen, die solcherart die Zeit tot¬
schlugen. Sokrates, der ein notorischer Müssig¬
gänger war, hat, aus seinem Nichtstun heraus,
der Welt die ewige Erinnerung an eine berau¬
schende Persönlichkeit, an einen der größten Kon¬
versationskünstler gespendet. Die Romanfiguren
aes sind fast durchwegs Nichtstuer, deren ein¬
erufsarbeit darin besteht, sich durch das Er¬
einer Rente jeden Berufs zu entschlagen.
Schnitzlers Helden haben meist nichts
il kün, als mit psychologischein Witz in die
U.
rgründe ihres Seelenlebens zu tauchen. Alle
diese Faulenzer enfalten trotzdem eine ganz be¬
trächtliche unbewußte Produktivität. Kann man es
bestreiten, daß ihre Arbeitslosigkeit Werte ge.
schaffen hat? Aus der Beziehung zwischen Mann
und Frau erwachsen die schönsten künstlerischen
Blüten, das Feuer, das die F##u entzündet,
schmiedet Gestaltungen, die eine Welt entzücken,
Casanovas Lebensgang allein ist ein Werk, das die
Nachwelt zu ergötzen nicht aufhören wird. Der
Verkehr mit Frauen aber braucht Zeit, nur ein
Nichtstuer kann ihn so pflegen, daß er zur Kunst¬
form wird. Eros ist ein Gott der keinen anderen
neben sich duldet, weder Mexkur, den Gott des
Handels, noch Hephästos, den Gott des Handwerks,
nicht einmal Apollo. Nur in einer Atmosphäre der
süßen Beschäftigungslosigkeit keimen die schönen
P
S
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S·11 1919
Prager iegblatt, Pran
Das Ende des Müßiggangs.
&5 Prag, 7. Feber 1919.
Der jahrelange Zwang, der den Bürger ins
Kriegskleid steckte, ist geschwunden; die Menschheit
wird sich über kurz oder lang wieder in Zivilisten
verwandeln und nicht mehr dem Maschinengewehr¬
feuer entgegenlaufen oder mit aufgepflanztem
Bajonett auf Bahnhöfen Wache stehen müssen. Mit
diesem, nun erledigten Zustand verglichen ist jeder
andere glückselig zu nennen; aber ein Paradies
wird, nach diesen Jahren der Zerstörung, die Welt
trotzdem nicht werden. Zum Begriff des Paradieses
gehört nun einmal die Freiheit von der Verpflich¬
tung, eine Arbeit verrichten zu müssen, außer wenn
sie zugleich ein Vergnügen ist. Ein solch schönes
Reich ist nun die Welt auch vor dem Krieg nicht
mehr gewesen, wie überhaupt die Entwicklung von
den Urzeiten her stetig den Weg von der Arbeits¬
losigkeit zur Arbeit genommen hat. Aber es gab
noch eine stattliche Anzahl von Menschen, ganze Ge¬
sellschaftsklassen, die, unberührt vom Zwang zu be¬
ruflicher Tätigkeit, ein wohlig durchwärmtes Da¬
sein führten, in dessen Klima eine Art besonderer
Kultur gedieh. Oesterreich namentlich war es,
dessen nicht nur begüterteste Schichten sich vielfach
den Luxus gestatten durften, nichts zu tun, als ihr
Leben zu leben, berufsmäßige Genießer zu sein
Diese mit der berühmten Schlamperei eng zusam¬
menhängende seelisch=kulturelle Eigentümlichkeit,
an der übrigens alle Nationen des Staates teil.
hatten, hat dem alten Oesterreich jenen Charakter
gegeben, der es zum Gegenstand einer wohlwollen¬
den Geringschätzung gemacht hat. Aber mit der
Donaumonarchie ist auch die alte Welt der Gemüt¬
lichkeit untergegangen und die neue Zeit scheini,
wenn auch frei von der täglichen Trdesgefahr, doch
eine härtere Zeit werden zu wollen. Sie muß, wie
mit so vielen anderen luxuriösen Dingen, auch mit
dem Recht auf das Nichtstun aufräumen, und schon
hat die tschechische Regierung einen Gesetzentwurf
eingebracht, der die Arbeitspflicht einführt. Für
die Müssiggänger werden bittere Tage kommen.
Keinem ernsten Menschen wird es einfallen,
die Nützlichkeit, die Notwvendigkeit eines Arbeits¬
pflicht=Gesetzes zu bezweifeln, seine nicht nur
e, sondern auch moralische Bedeutung zu be¬
n. Es ist nicht mehr als eine ironische Senti¬
lität, wenn uns eine wehmütige Erinnerung
Zeiten beschleicht, da selbst mäßig bemittelte
schen ihre Tage in der angenehmen Dämme¬
des Kaffeehauses, bei Spiel und Gespräch ver¬
igen durften. Es waren nicht die dümmsten und
pfsten Menschen, die solcherart die Zeit tot¬
schlugen. Sokrates, der ein notorischer Müssig¬
gänger war, hat, aus seinem Nichtstun heraus,
der Welt die ewige Erinnerung an eine berau¬
schende Persönlichkeit, an einen der größten Kon¬
versationskünstler gespendet. Die Romanfiguren
aes sind fast durchwegs Nichtstuer, deren ein¬
erufsarbeit darin besteht, sich durch das Er¬
einer Rente jeden Berufs zu entschlagen.
Schnitzlers Helden haben meist nichts
il kün, als mit psychologischein Witz in die
U.
rgründe ihres Seelenlebens zu tauchen. Alle
diese Faulenzer enfalten trotzdem eine ganz be¬
trächtliche unbewußte Produktivität. Kann man es
bestreiten, daß ihre Arbeitslosigkeit Werte ge.
schaffen hat? Aus der Beziehung zwischen Mann
und Frau erwachsen die schönsten künstlerischen
Blüten, das Feuer, das die F##u entzündet,
schmiedet Gestaltungen, die eine Welt entzücken,
Casanovas Lebensgang allein ist ein Werk, das die
Nachwelt zu ergötzen nicht aufhören wird. Der
Verkehr mit Frauen aber braucht Zeit, nur ein
Nichtstuer kann ihn so pflegen, daß er zur Kunst¬
form wird. Eros ist ein Gott der keinen anderen
neben sich duldet, weder Mexkur, den Gott des
Handels, noch Hephästos, den Gott des Handwerks,
nicht einmal Apollo. Nur in einer Atmosphäre der
süßen Beschäftigungslosigkeit keimen die schönen
P
S