VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1914–1920, Seite 24

2. guttings
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10. M06. 1978
Dis Zeit, Wier
Die Jagd nach Büchern.
Der Buchhandel durchlebt gegenwärtig
Zeiten der besten Konjunktur und befindet sich
In einer Krise. Das klingt im ersten Moment
wohl etwas paradox. Und doch gilt die Behaup¬
ntung in beiden Teilen. Denn nie war die Jagd
nach Büchern so lebhaft, nie die Kauflust des
Publikums für Bücher so stark wie jetzt, und
nie waren die Buchhändler weniger in der
Lage, die Wünsche des Bücher kaufenden Publi¬
kums zu befriedigen, als im gegenwärtigen
Augeblick.
Seit es die neuen Millionäre gibt, die
Wisten und Bildung mit Eßlöffeln zu sicht
ehmen wollen und daher, wie im Gasthaus,
Kauc im Bücherladen „große Portionen“ be¬
euer, ziemlich weiter Kreis von
ledereinbandes ermessen. Ehemalige Papier¬
händler, die viel Geld an den im Preis er¬
höhten Papiersorten verdient haben, werden
wohl auch fachmännische Beurteiler der Papier¬
qualität sein können. Darüber hinausgehende
Urteile abzugeben, werden diese Käufer kaum
imstande sein. So machen denn die Zwischen¬
buchhändler die besten Geschäfte.
Die Lager der Buchhandlungen aber ver¬
mindern sich. So sind beispielsweise die großen
Klassikerausgaben nicht mehr er¬
hältlich, und sie können auch nicht nach¬
geliefert werden, da die Verleger das für die
Herstellung notwendige Papier nicht haben. Die
schönen Ausgaben des Insel=Verlages sind nicht
mehr vorrätig, und die Tempel=Ausgabe von
Goethes Werken ist gleichfalls vom Markt ver¬
schwunden. Shakespeares Werke, die sehr gesucht
sind, kann man in den Buchhandlungen nicht
mehr erhalten — im Schleichweg wird man zu
„Mehlpreisen“ Shakespeare wohl noch erwerben
können — und viele Luxusausgaben erst¬
klassiger Verlagsanstalten sind verschwunden.
Die vom Publikum in den Buchhandlungen
gegenwärtig verlangten Bücher sind verschie¬
dener Art, was ihren Stoff betrifft. Man merkt,
daß Leute Bildung suchen, die aber nicht orien¬
tiert darüber sind, welche Bücher man wohl
zuerst gelesen haben muß, um als gebildet zu
gelten. Sie schämen sich, zu fragen und sich
Ratschläge erteilen zu lassen. Sie verlangen,
wohl nach Informationen aus Zeitungen und
Zeitschriften, wissenschaftliche Bücher, wie etwa
Bölsches „Liebesleben in der Natur" oder Freuds
verschiedene Werke über Psychoanalyse u. dgl.
Sehr bemerkenswert ist die Tatsache, daß viel
Memoirenliteratur gekauft wird, so sind zum
Beispiel Tolstois Tagebücher sehr begehrt.
Bücher, die vom Krieg handeln, werden sehr
wenig gekauft. Nur Stegemanns „Geschichte
des Weltkrieges“, die bisher in drei Bänden
erschienen ist, fand viele Käufer. Politische
Bücher wurden wenig erworben.
Die Kundschaft der verschiedenen Buch¬
handlungen ist natürlich auch eine verschieden¬
artige. In den vornehmen Geschäften der
Innern Stadt werden die großen Buchaus¬
gaben und die wissenschaftlichen Werke ver¬
langt und gekauft, die Kunden der Passage¬
buchhandlungen dagegen wollen meist Belle¬
tristik. Ein paar große Namen, die sie kennen,
scheinen ihren Wünschen führend zu sein. Sie
verlangen Schnitzler, Hofmannsthal, Bahr usw.
Besonders Schnitzler ist gegenwärtig ein derart
gesuchter Ause Werke fast verariffen
sind. Nur wenige Exemplare einzelner Werke
sind noch vorhanden, die Gesamtausgabe fehlt
fast überall.
Die Buchhändler hätten in dieser Zeit eine
schöne Aufgabe zu erfüllen: das kaufende,
Bücher verlangende, das auf dem Büchermarkt
in der Literatur völlig uneingeweihte Publikum
zu exziehen, ihm die guten Bücher in die Hand
zu geben, es zu beraten. Aber leider fehlt es
gegenwärtig an dem geschulten Personal, das
diese Pflicht erfüllen könnte. Mädchen helfen
im Bücherladen aus, die selbst nicht am besten
nientiert sind, und der Buchhändler selbst muß
sein Geschäft oft tagelang nur dem Personal
überlassen, weil er auswärts sein muß, um neue
Büchersendungen durchzusetzen, bei Behörden
und Verlagsvertretern.
Bücher werden viel gekauft. Der Umsatz
ist bedeutend. Aber quantitativ ist der Bücher¬
markt doch schwächer als früher — es sei nur
an die fehlende ausländische Literatur erinnert
und qualitativ ist er infolge des Fehlens
der großen, guten Bücher auch nicht hervor¬
ragend beschickt. Es ist Hochkonjunktur und
Krise im Buchhandel, ein ungesunder Zustand“
der wohl erst mit dem Kriea sein Ende fipsen.
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