VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1925–1929, Seite 13

Die judischen Mitglieder der
Dichter=Akademie.
Von Doris Wittner.
Der Anteil jüdischer Staatsbürger deutscher Nation
betrug nach den im Jahre 1900 ermittelten Statistiken
ra. 587 000, also noch nicht einmal ein Prozent der ge¬
samten Bevölkerung des damaligen Deutschen Reiches.
Unterdessen sind, nach dem Friedensschluß von Ver¬
failles große und stark bevölkerte Gebiete deutschen
Landes abgetrennt worden. Siehe Elsaß=Lothringen,
dte ehemalige Provinz Posen, erhebliche Teile Ober¬
schlesiens, Danzig, das Memelland und andere Gebiete
mehr. Der Auschluß der deutschsprachigen Gébiete der
ehemaligen habsburgischen Monarchie blieb vorläufig
politische Utopie. Aber selbst die etwaige staatliche
Vereinigung nätte an dem Prozentsatz der jüdischen
Bevölkerung kaum viel geändert.
Im Gegensatz zu der geringen Kopfzahl der jüdi¬
schen Mitbürger steht ihr lebendiger und lehenschaffen¬
der Anteil an dem geistigen und kulturellen Leben der
deutschen Nation. Fast alle wissenschaftlichen Diszi¬
plinen haben Juden als prominenteste Vertreter. (Es
ist überflüssig, daran zu erinnern, daß der erste
„Deuische, der nach dem Kniege die unbestritteige. Au¬
erkennung der gesamten Kulturwelt diesstls um
jenseits des Ozeans sand, ein Jnde, nämlich Albert
Einstein, war.) In allen schöpferischen Künsten hiel¬
ten fast immer jüdische Köpfe die Tate; ihr Einfluß auf
das Theater und ihre Leistungen auf den „Brettern,
die die Welt bedeuten sind volkstümlich genug, um
einer besonderen Erwähnung zu bedürfen. Des¬
gleichen ihr Wirten innerhalb der Publizistik ihres
Landes, der sogenannten „öffentlichen Mei¬
nung". Gleichviel, da es immer noch eine unüber¬
sehbare und ausrotthare Menge derer gibt, die weder
sehen, noch hören wollen, so ist jeder erneute Beweis
für die Tatsache, daß der deutsche #ude in seinen
geistigen und feelischen Beziehungen Deutscher ist und
daß in dem Boden deutsches Volkstumse Wurzeln
seiner Kraft verankert sind, nützlich und erfreulich.
Und eben ein solcher Beweis ist von der jüngsten Zeit
hinwieder erbracht worden.
Die deutsche Republik hat es für tunlich befunden,
der preußischen Akademic für Kunst und Wissenschaft
eine besondere Dichterakademie mit eigenen
Statuten und individuellen Daseinsbedingungen an¬
zugliedern. Schon vor ihrer Entstehung haben heftige
Kämpfe über die Nützlichkeit und Notwendigkeit dieser
Institution stattgehabt, ist das Für und Wider in
in mehr oder minder erregten Diskussionen verfochten
worden. Jedoch, das endgültige Ergebnis war die
Schöpfung der Akademie und man hat sich
mit ihrer Existenz nunmehr, unbeschadet der eigenen
Stellungnahme, abzufinden. Und auch im Rahmen
dieser neuen, ausschließlich geistigen Bestrebungen
dienenden Körperschaft gilt es, den Anteil der deut¬
schen Juden einer eingehenden Würdigung und Be¬
trachtung zu unterziehen. Vor allem heißt es, das
immer wiederkehrende Vorurteil zu berichtigen, daß
jüdischer Geist ausschließlich zersetzend, will sagen.
analytischen Charakters sei und sich daher besser dazu
eigne, einzureißen als aufzubauen. Auch unter den
in der jungen Dichter=Akademie vertretenen Köpsen
sind die meisten, die jüdischer Rasse sind, wenn auch
vielleicht auf dem Umwege der Analyse, syn¬
töetischen Zwecken und Zielen geneigt.
Arthur Schnitzler.
Arthur Schnitzler, ein gebürtiger Wiener, ward mit Fng
Denn nur
in die preußische Dichter=Akademie gewählt.
wenige, besonders begnadete Mitglieder der jungen Korpo¬
ration haben für das deutsche Schrifttum in so schöpferi¬
schem bereicherndem Sinne gewirkt wie dieser Sohn
der Donaustadt, in der vielfältige Rassen — die deutsche,
die romonische, die slavische zusammenflossen und vielleicht
eben darum den Charakter der von uns allzeit mit Liebe
und Sehnsucht umfangenen Metropole zu einer besonders
saszinierenden Eigenart verhalfen. Man hat oft und viel
über den Begriff des „Oesterreichers“ gesteitten; man
hat ihm Wohlwollen, Spott oder Abneigung entgegenge¬
bracht, und die konsequentesten Denter gelangten dahin, den
Begriff als solchen überhaupt zu negieren. Viel¬
leicht auch mit Recht, da der R#epräsentant eines Nationa¬
litätenstaates (mit zehn oder zwölf Kronländern), statt
Cmoxoser0
K
eines Nationalnaates, salli s

organisch gefügten Typus darzustellen vermochte. Und denn¬
Blute schmerzhaft erspüren
noch, wenn auch ethnologisch ein Unsinn, eine contradietio in
Weisheit die Wiener
adjecto; körperlich, geistig, feelisch und moralisch hat es ihn
große Gruppen ein: in d
trotzdem gegeben und gibt es ihn noch heute, den vielbefeh¬
lebte, bei ihrer sorglich ver
deten, scheinbar nicht existenten „Oesterreicher“. Niemand
milierung überzuckerten A
hat das in schöneren, klareren und einleuchtenderen Worten
werden, und in die ander
zu beweisen gewußt als der „Auch=Oesterreicher“ Felix Sal¬
sangenen sofort mit dem
#ten in seinem mit Herzblut geschriebenen Buche: „Das öster¬
Rasse ungefragt ins Gesich
reichische Antlitz“. Denn gerade jene vermeintlichen Mängel,
kennen: ein Drittes, nämlic
liches gutes Europäertung
die in den Augen des pedantischen und unerbittlichen Volks=,
Sprach=, Stammes= und Geschichtsforschers dem Oesterreicher
der Antisemitismus im 3
anhaf#eten oder ihm überhaupt den Garaus machten, liehen
Monarchie in hellen Flan
ihm in jedem vielleicht weniger buch= und buchstabengelehr¬
wenn er ein freier, künstle
ten Sinn seine besondere Eigenart und seine individuellen,
nicht. Schnitzler hat sich
eigenen Existenz nur diese
unnachahmlichen Vorzüge. Künstler würden sich ruhig zu
dem freudig bejahenden Wort „Reize“ versteigen. Denn
weitsichtigsten und kritisch
gerade, daß der besagte „Oesterreicher“ ein „sujet mixte“ war
und sein Roman fand nebe
aus deutscher Herbheit, Kühle, Willenskraft und Selbstbe¬
lische Anerkennung des
herrschung sowie aus romanischer Formbegabung, musischer
Lagers. Er hatte unerschr
Trunkenheit und leichterer, beschwingierer, gleichsam tänze¬
gekündet; aber eben die
rischer Lebensauffassung, zu guterletzt aber auch aus slavi¬
war es, die verblüffte und
scher Weichheit und Verträumtheit, Versonnenheit und Ver¬
Nachdem er diesen, sein
sponnenheit, nebst einer gegenstandslosen, um alle Dinge und
den urbauen Formen de¬
geführt hatte, griff seine in
Ereignisse des realen Lebens webenden und schwebenden
der Sturm und Drang de
Trauer und Wehmut, gab seinem Wesen jene letzte subtile
Verfeinerung, jene etwas moribunde Süße, die jungen, ein¬
alle verstaubten, vermoder
Institutionen seiner engere
heitlichen, gegen fremde Einflüsse noch abgeschlossenen Völ¬
Agnnigleiten der gesamten
##rsehlt, und ##wrlleicht den letzten Extraft, die
schucf Feschlissenen Waß
„tine Flür“ der Meuschheit, schlechtbin bedeuten. Und von
rung in vielgespielten B#
diesen großen Volksverführeren, Rattenfängern wider Wil¬
len war Arthur Schnitzler, der Dichter, einer der verfüh¬
Kakadu“ und „Der ju
Unverheblichkeit in seinem
rerischsten, bestechendsten,
„Lentwant Gustl“, Hy
Einer wohlangesehenen Wiener Bürgersamilie entsprossen.
der Familientyrannei in
wandte sich der früh erwächende Arthur vorerst dem in
Familientag“, „Lieb
seinem Hause traditionellen, von Vater und Bruder ersola¬
reich geübten ärztlichen Beruse zu. Aber er erkannte
„Das weite Land“.
vielen anderen, über alle e
bald, daß die exakte Wissenschaft ihn unbefriedigt ließ, und so
zug ziehenden Werken meh
wechselte er, nachdem er zuvor noch den medizinischen Dokter¬
der Empörung entfachte sei
grad in Ehren bestanden, schweisend und sehnsüchtig von Ana¬
in dem er — inmitten des s#
tomie und Hörsaal zum lockenden, weil noch in ferner Hoheit

wagte, die Menschlic
schimmernden Parnaß hinüber. Heute steht er auf dem Gip¬
verteidigen, und in dem e
fel des heiligen Berges und weiß wohl kaum mehr, wie heiß
leise, zart, abgetönt, wie
und schwer der Passionsweg war, den er (Passionsweg
Schmerzes, an die konf
im zwiefachen Sinne der Leidenschaft und des Lei¬
selbst vor dem Hause der
dens) zurückgelegt hat.
Jahr# um Jahre sind
Es mag um die Jahre 89 bis 90 des vorigen Jahrhunderts
Streitfragen, wie sie sich in
gewesen sein, mithin so eigentlich das, was man als „lin de
geetlien Dichterhirn undu
siecle“ bezeichnete, da erregten innerhalb Wiens und weit
Immer reifer, immer gu
über die Gemarkung der verbündeten Kaiserstadt hinaus
die Erkenntnisse des g#
kurze dramatische Dialoge, die in dem sogenannten „Ana¬
gleich, die um ihn kreisend
tol=Zyklus“ zusammengefaßt waren, Beachtung, Auf¬
Halt kennenden Meuse
sehen, Sensation. und, nicht zu vergessen, die Entrüstung
sublimer, immer verfeine
aller gesinnungstüchtigen, sittenstrengen Bürger diesseits
Mittel, seine Ausdrucksfor
und jenseits der schwarz=gelben Pfähle. Wieso? Warum? —
Filigrau, zartgliedrig, zier
Weil hier mit einer unendlichen Zartheit fallerbings auch
Keiner in deutschen Gauen
Zärtlichkeit), Grazte, Behutsamkeit und jeglichem Mangel
rühmen, die der seinen
an Heuchelei jene Dinge behandelt wurden, die man zwar
Kunst am Worte ward imt
in aller Welt tut, aber von denen man dazumal in guter
jeglicher Erdenschwere bef#
Gesellschaft noch nicht sprach. „Doch sollst du nie vor keuschen
schrieb kaum ein anderer
Ohren nenne, was keusche Herzen nicht entbehren können ...“
über den Menschen und
Mit sonveräner Willens= und Gewissensfreiheit hatte Schnitz¬
Deutsch. Dergleichen kan
ler die heiklen Fragen nom Entstehen und Vergehen des
wo die Erziehung zur künft
Lebens und der Liebe behandelt. Er hatte das unverzeih¬
alte Tradition Gesetz gemo
liche Verbrechen begangen, die verhüllten Bilder von Eros
Kunstgattungen Arthur Sch
und Hymen restlos zu entschleiern. Gewiß doch: man
tänzerische Seele seines
wußte wohl aus Volksliedern, die Bursch und Mädel san¬
mochten es Romane, Dram
gen, ohne sich viel dabei zu denken, daß Scheiden und Mei¬
liebte und meisterlich behe
den weh tue. Und wenn man nicht mehr Bursch' und Mädel
zu eigen. Nur die Stoffe
war und den eigenen Nachwuchs vielleicht schon das weniger
Kunst angedeihen ließ, pen
überzeugende als überzeugte Märchen vom Klavperstorch
Polen: Lebenerzeugende
lehrte, so ging man selbst in die Salon= und Ehebruchs¬
und Vergehen, hin un
dramen Pariser Imports, die damals gerade aufkamen,
logischer Atavismus des se
unterhielt sich zwei Stunden hindurch fürbaß und kehrte als¬
der einer Familie angese
dann befriedigt heim, in dem Gefühl, daß solche Ruchlosigkeit
zu der eigenen beruflichen
eben nur an der Seine gedieh, daß man selbst soviel besser
es an klinischen Einsichten
war, und tat in der weiteren Folge so etwa, wie Arthur
sellte sich hier eben noch jen
Schnitzler eben in seinem Anatol=Zyklus, von allen guten
ihn in der Ueberzengung
Göttern des „cant“ verlassen, geschildert hatte. „Niemand
seltsame, aber keineswe
lügt soviel wie der Entrüstete“ hat Friedrich Nietzsche einmal
In zahllosen Variationen
gesagt. Nun: die Wogen schlugen dazumal denn auch haus¬
amandi“ eines eben zur 9
hoch über den jungen Arthur herein. Was nicht hinderte,
und degenerierten Zeitalte
daß jeder Mann (und jedes Weiblein erst rechtl die kleinen
und Wähnen aller Lieh
zierlichen Bände kaufte und verschlang. Und da die Wahr¬
stalten noch vor der Schi
heit nicht aufzuhalten ist, so fraß sie sich auch durch den
knospenden „Frühlingsern
Pfesserkuchenberg der deutsch=östereichischen Entrüstung hin¬
schon abwärtsschreiten, den
durch, und bald wagte die eine oder andere mutige junge
Weg des Todes“
Bühne, die harmlosesten der „Anatol“=Skizzen aufzuführen.
Visivnen genannt — in
Der Dichter, unbekümmert um die Stürme, die ihn umbran¬
der Asphodeloswiesen hin¬
deten, dichtete unterdessen munter weiter und griff mit Vor¬
lassen, hat keine noch so be
bedacht immer etwas brenzlige Fragen an. In dem großen
gessen. Jedoch, dieser Dicht
Roman: „Der Weg ins Freie“ zum Beispiel das
Verständnis und Duldsam
Problem des scheinbar gleichberechigten Juden innerhalb der
seiner Zärtlichkeit, daß ein
antisemitisch verseuchten Wiener Gesellschaft. Und er, der die
ständlich ward. Absurd
Gegensätze, Reibungen und tödlichen Kränkungen, die „Zwi¬
schen den Rassen“ ausgetragen wurden, nicht nur vom Hören= roh gewordenen Gegenwe