VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1928–1931, Seite 15

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2. Cuttings

Uns selbst aber erwächst aus dieser Betrachtung eine
sondern auch, daß jeder Mensch, der in die Seele unserer
heilige Pflicht, die Pflicht, unsere Ankläger über unser
Religion und in unser religiöses Leben hineinblickt, über
Judentum aufzuklären. Die wirksamste Verteidigung des
uns gerecht urteilen wird.
Judentums ist nicht eine von einer bestimmten Tendenz
So wir aber fragen, warum sie im Altertum von dem
erfüllte Apologetik, sondern die wissenschaftliche Dar¬
Eselskult und der Gottlosigkeit, vom Menschenopfer und
stellung unseres Judentums, wie es sich in den Jahr¬
Menschenhaß der Juden fabelten und unseren Sabbat als
tausenden entwickelt hat, und unseres religiösen Lebens,
einen „traurigen Fasttag“ hinstellten, und warum sie im
wie es sich in vergangenen Zeiten gestaltet hat und noch
Mittelalter vom judischen Rachegott erzählten und Blut¬
märchen erdichteten, dann kennen wir die Antwort: Weil
heute Wirklichkeit ist. Auch in finstersten Zeiten haben
sie uns nicht kannten. So wir fragen, warum selbst Ge¬
wir an den Sieg des Lichtes geglaubt, und noch in der
lehrte von Rang noch in unseren Tagen über das Juden¬
Gegenwart glauben wir, daß die Wissenschaft die
tum ungerecht urteilen oder es verurteilen, dann huben
Menschen von Vorurteilen zu befreien und sie zur
wir eine Erklärung: Weil sie uns aueff in der Gegen¬
Gerechtigkeit zu führen vermag. Wir glauben, daß nicht
wart nicht kennen.
nur jeder Jude, der das Judentum kenmt, es lieben muß,
Das jüdische Drama
Von Georg Hirschfeld
Geistes ist ein Jahrhundert wie ein Tag. Die Griechenhatten
Die Geschichte des Judentums steht über der Geschichte
eine Tragödie, als in Palästina noch Propheten predigten —
der Kunst, wie Gottesglaube in Sternenkreisen über Mar¬
morgöttern. Nicht die Selinsucht, dem Lebensrätsel Form „Kunst“ hätte sich dort, vernichtenden Hohn fürchtend, ver¬
kriechen müssen. Als William Shake¬
zu geben, es bildlich zu lösen, wurde
speare in England das Drama für die Welt
jüdisches Geistesziel — unendlich weiter
erbaute, quälten sich die Kinder Israels
zielte der Drang des Urvolkes. In seinem
im Ghetto ihrer „Wirte“, verfolgt und
Schicksal und in seiner Erdensendung
verleumdet, schuldlos Schuld büßend. Das
hatte es tragische Weltdichtung, in seiner
britische Genie griff in das dunkle Ge¬
Klage ewige Musik und in seinen kümp¬
wimmel und krönte seine Gestaltungskraft
fenden Helden Bilder, plastische Gestalten.
durch einen Shylock. Das war vor drei
Die Ehrfurcht vor dem Leben, der
Jahrhunderten jüdische Steuer zur Kunst.
nährenden Mutter aller Künste, ist nicht
Einsam stand auch ein Denker auf, ein
jüdisch allein — sie lenkt auch das Kunst¬
jüdischer Sucher, der das Weltsystem, das
gewissen anderer Völker. Aber sie ent¬
Goethe befruchten sollte, schuf: Baruch
stammt für unsere historische Kenntnis
□000
Spinoza. Aber er war ein Philosoph —
der heimatlosen Hleimat im Osten, die dem
kein Künstler. Gewalt und Schmerz des
Abendlande nicht nur um tragischen Preis
Lebens standen dem jüdischen Geiste noch
eine Religion, sondern auch den Kern
immer zu hoch. Ein Vater im Ghetto
seines Lebensgefühls gab, einen Inhalt,
lächelte darob, mißtrauisch, scheu, ver¬
herrschend über alle Formen.
achtend — Gottesfurcht verbot ihm außer¬
Bibel und Talmud blieben durch Jahr¬
halb des Gotteshauses „Werte“ zu finden
tausende jüdischer Geistesschatz, ge¬
Michael Beer
der Sohn aber trat noch nicht als
(1800—1833)
prägtes Fühlen und Denken. Wunderbar,
Revolutionär auf, in heilige Schriften
wenn ein großes, gequültes Volk „keine
vergrübelt, suchte er wieder nur die jüdische Sendung —,
Zeit“ findet, sich in Kunst zu spiegeln. Der Jude fand keine
fern war noch der Literat, der Student auf fremden Schulen.
Zeit. Der Jude mußte wandern und seinen umnebelten Weg
Die Oeffnung des Ghettos, der Uebertritt ins Staats¬
schließlich doch vollenden. Ahasver auszumerzen und einen
glückhaften Heimatmenschen für ihn erscheinen zu lassen, war
bürgertum brachte die Wandlung — sie liegt in Deutsch¬
jüdische Aufgabe. Noch ist sie nicht vollendet, bei weitem
land wenig mehr als ein Säkulum zurück. (Mein Großvater
nicht — eigenes Irren, fremdes Uebelwollen umwogen uns noch
wurde in den Freiheitskriegen von 1813—15 preußischer
heute — aber die Schwelle zum Frieden scheint nahe. Das
Bürger, und ich bin jetzt 57 Jahre alt.)
gleiche Recht in Gott, Weltbürgertum in den Nationen, für
Des Judentums Leistung in diesen hundert Jahren ist
die Nationen kann nicht mehr fern sein.
beispiellos. Man darf es aussprechen, wenn man neben dem
An dieser Schwelle
Ruhm auch die Ge¬
zurückschauen und
fahr erkennt. Ueber
Symptome prüfend
Nacht, eine lange
Hoffnungen aus¬
Nacht freilich, stand
sprechen, ist in unseren
der Märchengarten in
Tagen Aufgabe dessen,
Blüte. Mit Heinrich
der die Kunst liebt
Heine und Felix
und den Juden in sich
Mendelssohn,
erkannt hat. Wir
dem Enkel des Philo¬
wissen es: gerade ist
sophen Moses, hob es
dliese Liebe gesammelt
an. Aber dieser Früh¬
und hundertfarbig
ling mußte Sehnsucht
wirksam geworden.
und Lyrik sein. Ein
Mit dem Jahrtausend¬
erstes Atmen, träu¬
mendes Wandern in
gefühl der Vergangen¬
der Freiheit, selig und
heit sicht er nun erst
skeptisch zugleich,
den Anbruch der Zu¬
gläubig und zer¬
kunft, denn die schöp¬
setzend, der Zauber
ferischen Erscheinun¬
das jüdi¬
Heines
gen des Judentums
sche Bedürfnis nach
wurden seit einem
Gottesliebe ironisierte
Jahrhundert erst sicht¬
die irdische sinnliche
bar. In der Geschichte
Richard Beer-Hofmann
Ludwig Fulda
(Atelier Mayer, Wien)
des menschlichen Liebe — der junge
(Phot.: Keystone)