VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1931–1933, Seite 3

2. Guttings
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Schnihter siehn.
Schwanengesang Alt=Wiers.
Vielleicht hat die latente Wirtschaftskrise Amerika ein
Gutes gebracht, seine Wandlung vom Geld= zum Geistesstaat.
Europäische Künstler, die drüben konzertierten, wissen bereits
zu erzählen, daß sich die Abkehr der Amerikaner vom Snobis¬
mus immer stäker bemerkbar macht. Man kauft nicht mehr nur
Namen und Stars allein, sondern verlangt auch ein künstlerisch
hochstehendes Programm. Man entdeckte drüben weiters, daß
Europa nicht nur Musiker, sondern auch Dichter besitze und
begann seit einiger Zeit seine fremdsprachige Literatur zu lesen.
Deutsche Bücher sind gegenwärtig in Amerika große Mode,
wobei Oesterreich zum Exponenten dieser Literatur geworden
ist. Und so ist es nur selbstverständlich, daß sich ein Literatur¬
historiker fand, der die Biographie des repräsentativen öster¬
reichischen Dichters der Vorkriegsgeneration, Artur Schnitzlers,
verfaßte, um diesen österreichischen Schriftsteller seinen Lands¬
leuten näherzubringen.
Sol Liptzin ist der Name des Autors, der das Buch
„Artur Schnitzler“(Prentice=Hall=Verlag, New=York) schrieb.
Liptzin ist Professor am City College von New=York und hat
sich als Lehrfach die moderne deutsche Literatur erwählt. Aus
seiner Feder stammt unter anderem das Buch „Shelley in
Deutschland“. In einem anderen Werk behandelt er die lyrischen
Vorkämpfer im modernen Deutschland. Als Historiker ist er
der Autor einer Literaturgeschichte, die die Zeit von Novalis
bis Nietzsche umfaßt. Sehr bekannt ist auch seine Heine¬
Biographie.
Das vorliegende Werk ist nicht eine Biographie Schnitzlers
schlechthin, mit trockenen Angaben von Daten aus seiner
Lebensgeschichte, sondern vielmehr eine psychologische Studie,
in der er die einzelnen Werke nach ihrer Einstellung zur Um¬
welt beurteilt. Schon die Ueberschriften der Kapitel deuten an,
worauf seine Analyse hinausstrebt. Das Buch beginnt mit dem
Aufsatz „Totentanz“. „Als am 31. Oktober 1931 Artur Schnitzler
starb, war er gerade damit beschäftigt, die Umarbeitung seines
Dramas „Der Ruf des Lebens“ vorzunehmen, das aus Anlaß
seines siebzigsten Geburtstages am 15. Mai 1932 als Festaufführung
in Szene gehen sollte.“ Die Antithese Tod und Leben bildete
den Grundstock von Schnitzlers Schaffen. Das Motiv des
Sterbens findet seinen stärksten Ausdruck in der „Liebelei“. Hat
das Duell seine Berechtigung? Würde nicht ein Mensch, der
bereits den Tod unmittelbar vor sich gesehen hat und
unerwarteterweise zum Leben zurückfand, in anderer Art
Genugtnung fordern? In knapper, aber eindringlicher Form er¬
klärt Liptzin den amerikanischen Lesern diese Probleme. Der
Autor hatte vor einigen Jahren in Wien geweilt und gehörte
zum engsten Freundeskreis Schnitzlers. Er erfuhr also vom
Dichter selbst die authentische Darlegung seiner Gedanken.
Der „Reigen“, die „Krankheiten der Ehe“ die „Fragen
der neuen Moral“ sind die folgenden Kapitel. Ein Aufsatz „Das
Panorama der Seelen“ ist Leunant Gustl und Fräulein Else
gewidmet. Das Judenproblem, wie es Schnitzler im „Weg ins
Freie“ aufrollt, wird eingehend erörtert. „Traum und Wirklich¬
keit“ beleuchtet des Dichters Werk. Und zum Schluß klingt das
Buch mit dem „Sang der Resignation“ aus. Liptzin schildert
den Dichter, der das Leben genossen und gekannt hat: „Im
Leben Schnitzlers gab es vier Saiten: Leben, Tod, Liebe und
Geschick. Gleich einem Violinvirtuosen wußte er aus diesen vier
Saiten die schönsten Melodien zu ziehen und erzielte dadurch
mehr Wirkung, als andere Menschen, die glauben, auf einem
ganzen Orchester musizieren zu können. Wenn man seinen
Namen hört, erfaßt einen die Sehnsucht nach der Jugend und
Liebe, nach sorglosen Tagen und frivolen Nächten.
Schnitzler sang den Schwanengesang des alten Wien. In
seiner begnadeten Hand fing er den letzten goldenen Schimmer
ihrer Größe ein und wandelte ihn in Kunst um. Zwei Städte
symbolisieren heute Deutschlands Hoffnung und Deutschlands
Verzweiflung, Berlin und Wien. Die energische Hauptstadt
Preußens und die liebliche Metropole an der Donau. Wien ist
die Stadt der Träume und der Süßigkeit, durchzogen von Musik
und melancholischem Tanz. Die Stadt der glorreichen Ver¬
gangenheit und der weniger schönen Gegenwart. Wien scheint
sich verloren zu haben, daher fühlt man hier den gewissen
melancholischen Unierton. Dieses Aroma der Stadt spiegelt sich
in Schnitzlers Werken, und wenn auch dieser Wiener Arzt tot
ist, so bleiben doch seine Dramen und Erzählungen lebendig
und werden weitergehört werden, im überall die Herzen zu
erschüttern.
R
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