VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1931–1933, Seite 4


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2. Bings
AVER‘
Aslle Nr. 1
.9. 42
28 miz. 1933
1. Beiblatt
Druck und Verlag von Rudolf Mosse in Berlin
Berliner Tageblatt

K
Theater ohne Frau
Leid und Lust hinter Stacheldraht
Roten Haus
Von
hsten Tage und Wochen
FRITZ ENGEL
Theater ohne Frau: gibt es das? Die Wissenden werden
Hauptaufgabe des neuen Magistrats und der neuen Siadtverordne¬
daran erinnern, dass neben einigen wilden Völkerschaften die

alten Hellenen und auch noch bis vor kurzem die Japaner eine
solche Einrichtung hatten. Aber gibt oder gab es das auch
sonst? Erst vor rund einem halben Menschenalter lebte ein
Theater ohne Frauen in Europa, in allen Erdteilen. Nur-Männer
standen auf der Szene, Männer, die einen ganz anderen Dienst
verrichtet hatten, ehe sie, wie man zu sagen pflegt, in den Dienst
des Schönen traten, und die jetzt in einigermassen erzwungener
Weise ohne eigentlichen Lebensberuf waren.
Wer waren diese Schauspieler, und wer war ihr Publikum?
Insgesamt fast eine Million Menschen. Man ist heute sehr
daran gewöhnt, mit Millionenziffern zu rechnen, im Plus und
noch mehr im Minus, aber unheimlich bleibt die Gewalt einer
Riesenzahl, wenn man sich daran erinnert, dass alle am Welt¬
krieg beteiligten Völker zusammen fünf Millionen Kriegsgefan¬
gene verloren haben. Darunter diese Million Deutscher, von
ihrer Heimatscholle gerissen, aus ihrer Familie, aus ihrem
bürgerlichen Beruf. Nun hinter Stacheldraht, ausgeliefert dem
Willen derer, die wieder ihre Leute in deutschen Gefangenen¬
lagern wussten.
Ohne auch nur das geringste Recht auf Selbstbestimmung,
herdenweise eingezäunl, blieben sie dennoch Menschen, mit aller
Sorge, die Menschen auszustehen haben, mit aller Sehnsucht,
deren Meuschen fähig sind. Was musste entstehen, was ist ent¬
standen? Das, was die Fachleute dann „Stacheldrahtkrankheit“
oder „Lagerfimmel“ genannt haben. Zerstörung des seelischen
Gleichgewichts, körperlicher Zusammenbruch, tollkühne Flucht¬
versuche, Auflehnung ganz vergeblich!
Dagegen gab es nur eines: Zerstreuung. Aus der innersten
Natur heraus meldet sich die Lust am Spiel. Sie äussert sich
wie Hunger und Durst und andere Triebe der Kreatur, spontan
und unbezähmbar. Einsichtige Lagerkommandanten merken das
und fördern die friedsam beruhigende Unterhallung. Hier war
ein Mittel, die Disziplin zu sichern, und umgekehrt, welch aus¬
gesucht harte Strafe, wenn man die Erlaubnis zurückzog!
In den hermetisch verschlossenen Bezirken der Lager tut sich
ein Reich der Phantasie auf. Je nach den vorhandenen Möglich¬
keiten gestaltet es sich in denkbar primitiver Form, und an¬
steigend gelangt es zu einem Grade, der sich der Vollkommen¬
heit nähert. Was die Urvölker an „Kunst“ ersonnen hatten,
was der naivste Mimus zu erzeugen versucht hatte, ohne Wissen
um diese Vergangenheit entsteht es hier von neuem und
schreitet fort, bis sich auch bewusster Kunstwillen meldet und
in Darstellung, Regie und Inszenierung die gesteigerten An¬
sprüche der Gegenwart befriedigt. Wer die mit gewaltigem
Fleiss gesammelten Berichte liest, die Hermann Pörzgen jetzt in
einem Bande „Theater ohne Frau“ über das Böhnenleben der
kriegsgefangenen Deutschen 1914 bis 1920 im Osteuropaverlag
hat erscheinen lassen, hat in einem Querschnitt die Geschichte
des Theaters überhaupt, von den frühesten Zeiten bis in unsere
Tage.
Rührend, es gibt kein anderes Wort, sind die Nachrichten
über die Bühnen, die sich der simpelsten Mittel bedienten, um
dem Drang nach Entspannung zu genügen. Leere Kisten sind
das Podium, wollene Decken und Betllaken oder auch zusam¬
mengenähte Hemden und Taschentücher sind Kulissen und Vor¬
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