VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1931–1933, Seite 37

Blick, mit dem Schnitzler seine Gestalten betrachtet, verrät den
Mediziner und Psychologen. Spricht man mit ihm selbst über
sie, dann hat man weniger den Eindruck, ihrem Schöpfer gegen¬
überzusitzen als ihrem hausarzt, der ihr Leben bis in die ge¬
heimsten Einzelheiten ihrer Konstitution kennt, ihr Seelisches
„perkutiert“ und ihren Daseinsäußerungen mit all ihren
Krisen und ihren Gefühlserkrankungen mit um so viel
größerem Interesse folgt, je eigenwilliger, oft durchaus gegen
die ursprüngliche Intention des Dichters, sie sich ihre beson¬
dere Existenz erzwungen haben ... und ihrer eigenen Knamnese
scheint er sehr mißtrauisch gegenüberzustehen. Und nicht zuletzt
spricht für Schnitzlers Liebe und Zugehörigkeit zum Krztestand
und für sein eindringendes Verständnis für all die verschie¬
denen Typen und Abwandlungen innerhalb dieser Berufs¬
erscheinungen die erlesene Galerie von Doktorenköpfen in
seinen Dramen und Novellen. Wobei von dem eigentlichen
ärzte- und Meisterstück, dem „Drofessor Bernhardi“ gar nicht
gesprochen werden soll, das nur ein Angehöriger dieses Standes
zu schreiben vermochte: in seiner Gesinnung und dem Hoch¬
halten der wahren Uission, der Pflichten und der verant¬
wortungsvollen Menschlichkeit des echten Arztes ebenso wie
in der köstlichen Darstellung einer ganzen Uenagerie von so¬
genannten heilkünstlern, die innerlich nicht das mindeste Be¬
rufensein fühlen und mit dem „geborenen“ Arzt nicht das ge¬
ringste gemein haben: aber gegen diese geschlossene Reihe von
Ignorantentum, von Neid und Borniertheit, von Protektions¬
wesen und politischem Konjunkturrittertum, von geschäftiger
Titels- und Ordensjägerei, von Strebertum und von egoistisch
irregeleiteter, wirklicher Begabung, der sich schließlich noch der
drollig-erbärmliche Typus der „selbstlosen Gemeinheit“ gesellt,
heben sich die Erscheinungen edler ärztlicher Geistigkeit, auch
die schrullenhaften und orthodox gelehrten unter ihnen, um so
heller ab. Ist schon diese prachtvolle Komödie in ihrer haltung
und Denkungsart ein zwingender Beweis für die unlösbare
Verbindung von Arzt und Dichter in Schnitzlers Wesen, so ist
vielleicht die Sympathie und die tiefblickende Erkenntnis ein
noch stärkerer, mit der er die vielen ärztegestalten in seinen
Stücken hingestellt hat. Fast in jedem tritt ein Arzt auf, nicht
immer in Ausübung seines Berufs, aber fast immer als wohl¬
tätiger seelischer Berater und als ein innerlich reinlicher, jedes
guten Gefühls der Freundschaft und Liebe, aber auch des ehr¬
lichen Verzichts fähiger, pflichtvoller Mensch. Die erste Gestalt
dieser Art, die Schnitzler geschaffen hat, der Dr. Wellner im
„Freiwild“ ist noch ein wenig indifferent und die nächste, der
Dr. Ferdinand Schmidt im „Dermächtnis“ ist sogar ein gründ¬
lich unangenehmer herr, subaltern, parvenühaft, lieblos und
beschränkt (sehr im Gegensatz zu seinem anonymen Kollegen
im 1. Akt des Stücks); aber so treffsicher er nach dem Leben
gezeichnet sein mag — er bleibt eine Ausnahme in des Dichters
Gesamtwerk. Uan denke an Erscheinungen wie den Dr. Reu¬
mann im „Einsamen Weg“ — dieser einzig schönen Elegie vom
Altern und vom unfruchtbaren Leben des artistisch Selbst¬
süchtigen und den Dr. Mauer im „weiten Land“, die
geradezu die Repräsentanten der vornehmen Empfindung und
feiner Rechtschaffenheit sind; an die menschliche Uoblesse des
Professors in der „Gefährtin“ (freilich auch an den Opportunis¬
mus, die Schäbigkeit und die moralische Minderwertigkeit der
drei anderen Mediziner in diesem Einakter); denke an die an¬
ziehenden beiden jüdischen ärzte in dem Roman „Der Weg ins
Freie“ an den bei aller geistigen Enge famosen Dr. Tann¬
schlöger in „Die letzten Masken“, den phantastisch skurrilen
Dr. Büdinger und den schmiegsam gescheiten, bei aller behut¬
samen Diplomatie doch teilnehmend fürsorglichen herzoglichen
Leibarzt Assalagny in der wundervollsten Legende des Wiener¬
tums, dem „jungen Uedardus“ vor allem aber, neben einer
stattlichen Anzahl anderer, wie z. B. dem großen Paracelsus
und seinem possierlich-ärgerlichen Widerspiel, dem dünkelhaften
und aufgeblasenen Stadtarzt Copus, an die unendlich liebreiche
und stille, allem Menschlichen verstehend bereite, kluge und
14

ernste Arztensgestalt im „Ruf des Lebens“ der ergreifenden
Romanze vom mißverstandenen Dasein. Sie alle leben und
atmen. Weil sie von einem Wissenden und Liebenden geformt
und ans Licht gerufen worden sind, der es immer wieder ein¬
bekannt hat, daß er im herzen seines herzens niemals auf¬
gehört habe, Arzt zu sein.
Uur der Arzt seiner Zeit hat Arthur Schnitzler nie sein
wollen, ich sagte es schon. Lieber als den zufälligen Fieber¬
erscheinungen einer vorübergehenden Epoche hat er sich in
seiner anmutvoll leisen und vergeistigenden, schmerzlich lächeln¬
den, niemals heftigen, aggressiven, grimmig zuschlagenden oder
gar brutal lärmenden Art den ewigen Fragen der Uenschheit,
der Liebe und dem Tode, der Unsicherheit aller Beziehungen,
den Droblemen der Derantwortung und der Zusammenhänge
des Daseins hingegeben. keiner hat die Verzweiflungen des
Alterns, die Magie des Traums (noch vor Sigmund Freud),
des spielerisch fälschenden Worts und der Abgründigkeiten der
Liebe, keiner die Unbeständigkeiten aller Gemeinschaft, die
Komödien der Eitelkeit, den Humor der Sexualtierchen, das Er¬
bitternde und Erheiternde aller menschlichen Erbärmlichkeit,
das ganze Karussell der konventionellen Verlogenheiten mit
solcher faszinierender Uleisterschaft, so verführerisch schwerelos
und in schimmernder Gedankenfülle dargestellt und in die reiz¬
voll glitzernden Schleier einer berückenden Wortkunst gehüllt.
Darüber hinaus bleibt die „Liebelei“ das rührendste Dolkslied
von junger Frauenliebe und männlicher Ahnungslosigkeit, der
„Reigen“ einfach ein Ewigkeitswerk in seiner tiefsinnigen
Komik, in der einzigartigen Kraft, mit der das Belustigende
und dabei Deprimierende des bloßen Geschlechtssports geradezu
erschütternd in all seinen erheiternd animalischen, gefühls¬
leeren Darianten abgewandelt und in die höchste Humorsphäre
gehoben wird; der „Leutnant Gustl“ ein unvergängliches Denk¬
mal eines verstorbenen Militarismus und seines unmensch¬
lichen Ehrenkodex ... und wer von Ueisterstücken wie dem
„blinden Geronimo“ oder „Casanovas Heimfahrt" oder „Fräu¬
lein Else“ oder der vorhin in anderem Zusammenhang ge¬
nannten Standardwerke zurückblickt bis zum „Anatol“ mit
dem er jahrelang etikettiert worden ist und dessen Figur nebst
der des „süßen“ Mädels man immer wieder von ihm verlangt
hat, und zu den Schilderungen der Wiener Gesellschaft (oder
richtiger: eines bestimmten Segments dieser Sphäre), dann
wird man sich dessen bewußt, daß auch sie geistig weit über ihre
Stofflichkeit einer engen, reizvoll erbitternden Sport- und
Flirtmenschheit hinaus in absonderliche Gedankenreiche
dringen. Wie hoch und in welche Fernen, spürt man am deut¬
lichsten, wenn man sein tiefgreifendes, einfallsreich unter¬
haltsames „Buch der Sprüche und Bedenken“ durchblättert: es
enthält die Weisheit eines ganzen Lebens, ist Resultat und
Ausblick ins Freie zugleich.
In seinen letzten Werken ist Arthur Schnitzler anders. Er
ist reif und illusionslos geworden. Alles wird ihm zum schönen
oder tragikomischen Spiel; er entblättert die ererbten pathe¬
tischen Begriffe, vor allem die der Treue und der Überzeugung,
ihrer falschen Bedeutsamkeit. Er erkennt die Gewichtlosigkeit
der vermeintlichen Wichtigkeiten, löst mit ruhiger hand eine
Maske der Gesittung nach der anderen, in leise spöttischer Ver¬
achtung ohne haß, in der bewunderungswürdigen haltung
eines uneitlen, vom Ruhm nicht verdorbenen, gegen sich selbst
und sein Schaffen schonungslosen, durch keine Lockung und kein
Modeschlagwort zu verwirrenden, unbeirrbaren Meisters, der
eben darin allen Späteren zum Dorbild geworden ist und für
den alles Leben und Menschenschicksal die Schwere verloren hat.
Er ist selber zu einem Duppenspieler geworden ... wenn auch
zu einem anderen, dem letzten Sinn näheren, gütiger und
reicher der Welt aufgeschlossenen als der seines beziehungs¬
vollen, von dunkler und heller Erfahrung überwölkten Ein¬
akters. Und immer noch ist alles, was er schafft, voller Ge¬
stalt: mit dem Blick des Arztes geschaut, von der hand des
Dichters geformt.