VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 55

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Macht können sich kunstverständige Menschen ja nicht entziehen, aber man begiebt
sich doch nicht gern der eigenen Freiheit und darum fühlen manche einen starken
Unwillen gegen dieses von neuen Ideen erfüllte Buch. Das aber waren von jeher
die großen Kunstwerke, welche einen neuen Menschen schufen, der die Gegenwart
weit übertraf und alle dunkeln Sehnsuchten der Zeit durch sein Dasein erfüllte.
Das war die Bedeutung des „Werther“, oder des „Niels Lyuhe“ oder der „Müden
Seelen“. Und das scheint mir der Werth dieser Skizzen. Alle haben zum Helden
diesen Sonderling Peter Altenberg, diesen Tartaren mit der schlecht geknüpften
Cravatte und den merkwürdigen Ungezogenheiten, diesen Revolutionär und Be¬
wegungbringer. Ich wüßte kein Buch der letzten Jahre, das einen solchen Menschen
geschaffen hätte, als etwa den Nielsen Nagel des nordischen Hamsun. Es sind
lauter Fragmente zu einem Roman.
Das Buch hat eine raffinirte Cultur, aber nicht die Welt dieses Buches.
Es befaßt sich mit allerhand unbedeutenden und unscheinbaren Dingen, die sonst
in glanzloser Alltäglichkeit daliegen: die Wirtschaft feiner Bürgerhäuser, die Ge¬
spräche junger Frauen, die Vorstellungen im Orpheum, oder die Concerte im
„Bösendörfer“ oder die Lebensweise einer Dirne, oder eines Ladenmädchens. Alles
ist auf einmal beseelt und scheint einen neuen, köstlichen Beruf zu bekommen, näm¬
lich: die eigene Schönheit und innerste Bedeutung auszudrücken. So wird wieder
sehr oft diese Hauptfigur, der unter den lebenden und leblosen Dingen wandelnde
Peter Altenberg ganz verdrängt von der siegreichen Kraft der von ihm beseelten
Dinge. Darum ist dieses Buch so revolutionär, weil es stummen Seelen und
stummen Dingen die Herrschaft an die Hand giebt, weil es sie tönen, ihre Größe
und das Elend ihrer Knechtschaft und die in ihnen ruhende Schönheit aussagen
und zur Macht gelangen läßt. Und weil wir nichts mehr dauernd, bleibend
empfinden, sondern alles nach der Herrschaft strebend, fühlen wir uns beängstigt.
Und in dieser kühnen, zugleich unendlich mitleidsvollen Art der Betrachtung liegt
auch die sonderbare Philosophie dieses Buches. In ein paar brausenden
Sätzen wird sie verkündet, sonst aber in gegenständlichen Skizzen dargestellt.
Dieses Buch zeigt die Dinge von unsern sehr egoistischen Werthurtheilen befreit
und das geringste ist dem höchsten gleich. Das ist die eigenartige Objectivität
dieses sich gar so subjectiv gebärdenden Künstlers, daß er eigentlich nur aus einer
unendlichen, mitleidsvollen Liebe zu den werthvollen Dingen, die in Knechtschaft
schmachten, sie durch seine herrische Anschauung befreit und unerhörte Macht ge¬
winnen läßt.
Man sieht ihn meist allein durch die Welt gehen in seinem Buche, über¬
all sind todte Dinge, starre Menschen und er ist so wunderlich, daß er vielen als
Narr vorkommen muß. Aber manchmal findet er unverhoffte Gefährten, in dem
Blick eines Kindes, oder in dem müden Händedruck einer Frau, oder in der
jauchzenden Interjection eines kleinen Mädchens oder in dem gesenkten Blick einer
Erröthenden. Und diese unscheinbaren Zeichen belehren ihn, daß er seine Welt mit
andern Menschen theilt, vor ihm liegt sie freilich offen, den andern wird sie aber
nur in seltenen Augenblicken enthüllt. Und dieses Buch will den Menschen die
Welt geben, die in ihnen ruht, wenn sie nicht Barbaren sind. Darum setzt es
freilich eine Cultur voraus, aber eine ganz unbewußte Traumcultur weniger Frauen
und Kinder und Thoren. Erziehen wollen diese Skizzen! Sie wollen in den
armen, irdischen Menschen das Gefühl von ihrer Schönheit wecken und von der
Freiheit, sie zu entfalten. In den kleinsten Dingen und in den nichtigsten Hand¬
lungen wollen sie die Menschen dazu bringen, die verborgene Schönheit, wenn
eine in ihnen ist, auszufalten und zur Herrschaft zu bringen. Und das heißt:
Und weil das heutige Leben ein sehr
Cultur will dieses Buch lehren!
barbarisches ist, ist dieser Peter Altenberg ein Revolutionär und bouleversirt die
guten Bürger. Darum ist auch diese zweite Wirkung sein ständiges Ziel. Der
heftigste Feind der neuen Schönheit ist nicht der Barbar, in dem sie ja doch ruhen
kann, sondern l’homme médioere, der Zufriedene, satte, der sie nie verstehen kann
und der sie nicht begehrt, weil er sie nicht einmal ahnt. Ihn muß man tödten,
ersticken. Ecraser l’infame! — Und das sonderbare ist, daß solche Bomben in
solche kleine stille Skizzen gelegt werden. Meist sind diese kurzen Gedichte in Prosa,
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