VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 97

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2. Cuttings
Larm; Brest kann ganz ohne Sorge sein. Was nicht so heiß gegessen, wie gerocht wird, wenn Feran heute==Genssemond-begangend
Eine Stunde verging solcher Weise und eine! „Natürlich,“ sagte das chauvinistische Fräu¬
lein. „Uns imponiert nicht so bald was! Ueber¬
zweite, und die Zeit schien wirklich nur noch
Feuilleton.
haupt, was kann denn an Berlin 'ran! Wir
ein Begriff zu sein, als plötzlich der Herr mitten
haben den Komfort, den Luxus, die Eleganz, die
in der schönsten Unterhaltung den Kopf sinken
Das Märchen von Wien.
und einen Seufzer hören ließ, der das Fräulein
größten Hotels, die besten sanitären Anlagen,
Ein reizendes junges Fräulein, des goldenen
arg erschreckte. Sie griff rasch nach seiner Hand
keinen Staub, viel Schatten, ausgeglichene
Frühlings froh, trat aus den heißen Straßen
Temperatur, kurz alle Erungenschaften des
und fragte besorgt: „Was ist Ihnen?“
Berlins in den kühlen, grünen Schatten des
Jahrhunderts. Aber Wien! Wien ist stehen ge¬
Aber er sagte nichts weiter als: „Und heute
Tiergartens. Aber sie war müde und wollte sich
blieben.“
abends verlasse ich Berlin!“ Aber damit sagte
setzen. Also ging sie auf die Suche nach einer
„Und darum so reizend, so lieb, nicht wahr?“
er sehr viel. Sagte sehr Bitteres und Schmerz¬
Bank, fand jedoch alle eng besetzt. Ammen und
liches. Das Fräulein verstummte in heiterem
„Ja, das ist's! Wir kennen ja Wien so gutl
Gouvernanten, alte Herren und Bürgerdamen
Gelächter und ward blaß und fragte nur:
Ich könnte es Ihnen beschreiben, als hätte ich
genossen hier Stille und Kühle und schauten
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„Wohin?“
jahrelang dort gelebt.“
freundlich=gelassen den Spielen der Kinder zu.
„Nach Wien,“ sagte er dumpf, als verkünde
„Bitte, tun Sie's. Ich will sehen, ob Ihr
Das Fräulein umwandelte den Goldfischteich,
er ein Todesurteil. Das Fräulein ermannte sich
Bild mit dem meinen stimmt.“
in dessen unbewegtem Wasser die Fische wie
und sagte schier leichthin: „Nun, dorthin gehen
„Natürlich stimmt's. Es gibt nur ein Bild
rote Klumpen Metalls lagen, fand kein
Sie doch gewiß riesig gern. Diese liebe Stadt!“
von Wien. Und so malt es sich im Berliner
Plätzlein, schritt weiter, erreichte die Rousseau¬
„Ja, gern, bis heut' mittags. Ich hab' mich
Hirn: Nehmen wir an, wir kämen nachts dort ##
Insel, um die herum Enten ihre Küken
so gefreut. Aber jetzt...“ Hier sah er sie an.
an. Also wir fahren in den Bahnhof ein. Es¬
schwimmen lehrten — und dort, auf einer an¬
So, daß sie die Augen niederschlug. Doch klug
ist dunkel, still. „Wien!“ ruft der Kondukteur.
mutigen Halbinsel, zwischen Erlen und Weiden,
und unsentimental, eine richtige Berlinerin,
„Alles aussteigen!“ Man weigert sich, denn
war eine lauschige Bank. Ein einzelner Herr
schnell entschlossen, resolut und forsch, bemühte
man glaubt's nicht. Das wird wohl nur eine
saß darauf, müßig, träumerisch, und blickte
sie sich, Enttäuschung, Rührung, Aerger zu ver¬
Vorstadt sein. Aber, o Schreck, 's ist die Kaiser¬
nun der Dame entgegen. Die überlegte, ob es
bergen und begann das neue Thema abzu¬
stadt. Man kemmt in totenstille, ausgestorbene
wohl passend wäre, sich zu ihm zu setzen — aber
handeln: „Also nach Wien! Da gratuliere ich!
Straßen. Denn es ist zehn Uhr! Da schläft der
da er hübsch, fesch und verständig aussah, schlug
Das Idyll unter den Großstädten! Die Zen¬
Wiener! Er ist tagsüber so lustig, so gesprächig,
sie alle Anstandsregeln für junge Mädchen in
trale der Liebenswürdigkeit, das Paradies der
so tätig in seiner Weise, daß er den Haus¬
den Wind und ließ sich nieder — allerdings
schönen Frauen, der Kultur, der Intelligenz.“
meister niemals bemüht.“
abgewendeten Gesichts.
„Ja, und die Stadt der Kaffeehäuser, der
„Ja!“ sagte der Herr leidenschaftlich,
Es
Nun, so was schützt noch lange nicht.
Volksfeste, der Korsofahrten und der Walzer.
sein ungestümes Berliner Blut kochte v#
seien alle einleitenden Wendungen und Be¬
Nicht wahr, Sie kennen Wien, scheint es?“
Empörung über die Wiener Nacht. „Da haben
mühungen übergangen. Genug, fünf Minuten
„Aber nein! Welcher Berliner kommt denn
sie jetzt zwar Bars und Tanzsalons, ein Palais
nach des Fräuleins Niederlassung in des
mal nach Wien? Aber Sie kennen es schon?“
de Danse wie wir — ha, wie wir! Vielleicht
jungen Herrn Nachbarschaft war plötzlich ein
verirrt sich mal ein unglücklicher Landsmann
„Auch noch nicht. Das heißt, natürlich kennt
Gespräch da, ein kleiner, herziger Dialog. Man
dahin und findet leere Säle, gähnende Kellner,
man Wien! Wer hier kennt denn diese Stadt
rückte zueinander, das Fräulein entfaltete
unbesetzten Bartisch, überflüssige Musik. Selbst
nicht? Sie hat ja einen so ausgeprägten
Charme, der Herr Geist, und bald löste sich die
die Cafés verlieren nachts ihre Bestimmung.
Charakter, man hört so viel von ihr, liest vor
Halbinsel vom Lande und trug — ein glück¬
allen Dingen so viel über sie, daß man sie fast Denken Sie, die Nacht ist in Wien zum Schlafen
liches Eiland — die Plaudernden ein wenig
da! Begreifen Sie? Der Wiener, dieser lustigste
besser kennt als Berlin. Berlin ist in der Tat
aus der Welt. Schönere Horizonte fingen sie
Erdenbewohner, dessen Blut in Walzerrhythmen
ein, höhere Himmel umblauten sie, und unerschöpflich. Aber Wien! Trotz seiner zwei
Amoretten bliesen in die Baumwipfel, die Millionen ist's ja eine kleine Stadt. Für uns fließt, dessen Seele immer im Tanzschritt geht,
hat noch immer nicht unsere Nachtkultur auf¬! g
werliastens!“
Fahrt zu beschleunigen.
Z

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