VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 100

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2. Cuttings

ußen? hat man zum Visavis? Da sitzt der Herr von sah ihren Ruf als Patriotin gefährdet und fuhr sim Café ein Bild von Wien ersinnen, kon¬
struieren? Vielleicht kommen sie gar nie auf die
Hoffmannsthal und der Daktor Schnitzler. Und gewandt fort: „Ich meine ja nur so. Natürlich,
nd an
Straße, vielleicht machen sie einen Einzelfall
wie kann man vergleichen! Aber diese schlanken
der alte Baumeister redet mit Klimt. Und der
nt, an
zum Typ, vielleicht sehen sie die Stadt gar nicht
Leutnants in den süßen knappen Uniformen —
Schönherr liest Zeitung, und Jakob Wassermann
wöhnt,
wie sie ist, sondern wie sie unglücklicherweise
Ewie reizend sind sie! Gar nicht so unerschwing¬
kommt so gemächlich herein, und der elegante
hinten
sein könnte. Ich habe manchmal Bedenken gegen
lich wie bei uns. Einfach Menschen! Junge
Herr Korff macht einen neuen Mantelschnitt
Auto,
diese Wiener Schilderungen Wiens.“
populär. Und drüben lacht die Niese, ganz so Männer, Herren, die erreichbar sind, legitim zu
aufen,
„O, Liebe!“ rief der Herr empört, „Da ver¬
rührend=lustig, wie auf der Bühne. Und die igkobern! Und überhaupt, die Wiener Herren!
nt, an
kennen Sie die Gewissenhaftigkeit und Ehr¬
Frau Gerti kommt und holt ihren Mann ab. Lauter Anatols und Fritzen, manchmal auch ein
Welch
lichkeit des Journalisten! Wenn alles stürzt. auf
Max dazwischen. Und die Mädels — lauter
Und in einem anderen Kaffeehaus sitzt die Oper
reund¬
die Presse können Sie bauen. Nein, das stimmt
Christinen und Mizzis. Die Luft ganz Liebe,
und dort die ganz junge Literatur. Und es sieht
über
schon, was wir aus Wien über Wien hören: An
Sinnlichkeit, Leichtsinn, schnell getrocknete
doch wirklich aus, als ob's in Wien nur berühmte
Autos
allen Straßenecken eine Versammlung genialer
Tränen; Wehmut, die lächelt; Heiterkeit, die
Leute gäbe. Und alle so populär. Jedes Kind
ockung
Frauen. Denn entweder sind die Wienerinnen
leise weint. Und der Kahlenberg! Wer glücklich
sagt zum anderen: „Du, da kommt der Herr von
berall
schön oder ein Talent, meistens ein schrift¬
ist, fährt hinauf. Und darum ist er immer voll.
Beer=Hofmann. Geh, sag' ihm Grüß Gott.“
gro߬
stellerisches. Eine Zeitung dort soll ja ganz in
Kann man in Wien unglücklich sein? Wien ist
erkehr
Und alle so herzig freundlich, ganz wie richtige
Frauenhänden sein und nur Frauenarbeit ent¬
Tanz!“
Emmer
Leute. Und dann alle zur Spazierfahrt in den
halten. Und in jeder Konditorei ein Kaffeeklatsch
Aber da sah das Fräulein plötzlich, daß der
te es,
Prater.“
von Komtessen, denn, wenn eine Dame dort kein
Herr neben ihr ganz ernst und still geworden
irren.
„Ja, aber man traut sich kaum einen Fiaker
Genie ist, ist sie doch sicher eine Gräfin ...“
war. „Was haben Sie?“ rief sie wieder.
staunt
zu engagieren. Denn die Kutscher sehen akkurat
„Nun, nun,“ sagte das Fräulein beschwichti¬
Und da sagte er: „Ja, Anatol und Christin'.
wie die Grafen aus. Sie kaufen ihre Garderobe
gend, „jetzt werden Sie ja bald selbst dort sein.
AAber erinnern Sie sich nur: auch in Wien gibt's
Café.
gewiß in einer Kleiderschwemme und tragen
Ich fürchte nur, Ihr Traum wird der Wirklich¬
den Herrn von Sala, gibt's die Johanna, die
nur englische Sportpaletots und Hofschneider¬
n, die
keit nicht standhalten. Vielleicht spiegelt sich
Genia und ihren Mann. Wissen Sie, was ich
die
röcke. Und sie fahren wie der Teufel, toll und
Wien in einem norddeutschen Hirn ganz ver¬
glaube: ganzes, tiefes Unglück gibt's nur in
sicher, stolz wie ein Herzog, der seinen Gast
b doch
zerrt und entstellt, und Sie mögen die Hände
Wien, wie es dort die heiterste Freude gibt.
heran¬
führt. Ihnen gehört die Stadt, und sie zeigen
zusammenschlagen über dem wahren Antlitz
Nur daß dort Unglück sich leichter verklärt.“
sie voll eitler Anspruchslosigkeit.“
Wiens.“
1„Aber nun,“ rief das Fräulein, „möchte ich
Wien
„Und im Prater,“ fuhr das Fräulein ver¬
„Gott weiß,“ sagte der Herr erschrocken, „da
doch wirklich wissen, woher Sie so gut Wiens
zückt fort, „w. hes süße, harmlose, un¬
ist Wien womöglich eine richtige große Stadt
Seele kennen, als Fremder, nie Dort¬
schuldig - ausgelassene Volkstreiben! Welche
mit richtigen normalen Menschen, tatsächlicher
gewesener...“
rt!“
delikate Eleganz! Tausend Wagen fahren an¬
Arbeit, ernsthafter Kunst und regelrechtem.
„Ja, ich bitte Sie, wozu hat Berlin seine
eknander vorüber. Da zeigt sich Wiener Schick
en im
Verkehr. Vielleicht lebt es tatsächlich schon am
Zeitungskorrespondenten dort? Lesen wir hier
und Anmut, Vornehmheit und Liebenswürdig¬
daß
Ausgang des Jahres 1912, ich werde dastehen
in unseren Blättern nicht jede Woche so eine
keit. Die Herren zu Roß daneben. Ein ewiges
angen
und umlernen müssen und meine Träume
reizende Plauderei, aus denen zusammen man
Grüßen, Plaudern hinüber, herüber. Bois de
der
korrigieren. Aber eins ist gewiß: die Wienerin¬
sich dann jenes Bild von Wien macht, das ich
Boulogne verblaßt. Die Wiener Gesellschaft
hrtisch¬
nen, die Wienerinnen ...“
Ihnen soeben entwarf? Diese jungen Wiener
ist die erste Europas. Die Offiziere...“
entisch
„Natürlich,“ sagte das Fräulein abwehrend
Literaten schicken uns ja Feuilletons und
ament
„Ha!“ rief der Herr und fühlte sich ganz
und stand auf und fühlte sich irgendwie im
Bücher, die sich mit Wien beschäftigen.“
preußischer Unteroffizier, bis wohin er es ge¬
Tiefsten schwer gekränkt und benachteiligt, daß
„Aber,“ sagte das nachdenkliche Fräulein,
Cafél bracht hatte. „Ha!“ Und eine furchtbare
sie nur eine Berlinerin war!
„ob das auch stimmt? Ob nicht vielleicht diese
Drohung lag in diesem Ausruf.
tlichen
Kurt Münzer.
Berlin.
men! Das Fräulein, total eingeschüchtert, erschreckt, blassen und ätherischen jungen Herren sich da
W
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