VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 145

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2. Cuttings
auch hier die Tendenz nicht gerade störend hervor. Wundervoll] „Sterben“. Es giebt nur ein furchtbares Schrecknis: das St#rven.
sind auch hier die Liebesscenen gelungen, die bei der Herbheit Das ist die unbegreiflichste Unnatürlichkeit, die Llebe von Liebe,
der Charaktere dem Dichter größere Aufgaben stellten, als etwa] Leben von Leben, Menschen von Menschen trennt. Schon der
die seinem Wesen mehr entsprechenden Liebesscenen der „Liebelei“. Sterbende gehöct uns nicht mehr an. Unsere Liebe wird Mitleid,
unser Mitleid erkaltet, das Leben triumphiert. Und der Ster¬
Ernsten gesellschaftlichen Problemen tritt Schnitzler auch in
bende: er möchte den Lebenden mit sich nehmen, zuletzt nicht
seinem letzten größeren Schauspiel „Das Vermächinis“ ent¬
mehr aus Liebe, sondern aus Haß und Neid, aus Feindschaft ...
gegen. Hier kämpft er gegen die bürgerliche Moral. „Das Ver¬
Diese Psychologie eines Sterbenden und des Lebenden am Lager
mächtnis“ des Dr. jur. Losetti, der infolge eines Sturzes vom
des Kranken enthüllt uns Schnitzler in seiner feinen, wahren
Pferde stirbt, ist seine Geliebte, die ihn vier Jahre hindurch mu
und tief tragischen Novelle: „Sterben“. Auch hier eine meister¬
ihrer innigen Liebe beglückt hat. Dieses Mädchen und sein Kind
hafte Zeichnung innigster, aufor fernder Frauenliebe! Unbe¬
empfiehlt er sterbend seiner bürgerlich vornehmen Familie. Einige
schreibliche Anmut ziert auch diese unig=kluge, naiv=sentimentale
der Familienmitglieder nehmen das Mädchen mit Liebe auf,
Marie, diese unglücklich=glückliche U.berlebende. Auch das No¬
andere mit Widerstreden und heimlichem Hasse. Man freut sich
vellenbuch: „Die Frau des Weisen“ rzählt uns viel vom Tode.
des Kindes. Aber dieses stirbt leider. Immer mehr wird man des
Feines Geplander wechselt mit dunkler Tragik. Aus der glän¬
Mädchens wieder überdrüssig. Man weist sie schließlich aus
zenden Reihe erwähne ich die Novellen: „Der Ehrentag“,
dem Hause. Sie geht in den Tod, von allen verlassen. Man
welche uns die ergreifende Duldergeschichte eines kleinen Schau¬
kann sich vorstellen, daß diese Entwicklung eine Reihe hoch¬
spielers erzählt, die „Blumen“, ein Seelengemälde voll me¬
dramatischer Scenen mit sich bringt. In der That ist auch hier die
lancholischer, lyrischer Stimmung, und „DieToten schweigen“, eine
Technik und der geschmeidige, lebendige Dialog bewunderungs¬
würdig. Trotzdem wirken die Hauptfiguren gemacht und un= dunkle moderne Prosaballade: Ein ehebrecherisches Weib fährt
mit dem Geliebten durch die Nacht auf einsamer Landstraße.
wahr und psychologisch unglaubwürdig. Gerade die innere Wahr¬
Da stürzt der Wagen von der hohen Landstraße herab. Der
heit, das menschlich Ausgleichende fehlt ihnen und somit dem
Geliebte kommt dabei um's Leben. Diese Nachtscene ist dem
Stück auch die tiefere und überzeugende Tragik.
Dichter meisterhaft gelungen.
Auch die drei Einakter „Paracelsus“, „Der grüne Kakadu“
Zum Schluß sei noch erwähnt, daß Schnitzler auch als
und „Die Gefährtin“ bedeuten keinen Fortschritt. Glänzt in
Lyriker Feines und durchaus Beachtenswertes geleistet hat. Man
dem einen nur die geistreiche Idee, so besticht in dem andern
findet einige tief empfundene, formell bis ins kleinste durch¬
der geistvolle Dialog. Schon in einer der Anatolscenen operierte
dachte und stimmungsvolle Gedichte von ihm in der soeben
der Dichter mit dem Hypnotismus. So eine Salonvorführung
erschienenen Anthologie „Die deutsche Lyrik des 19. Jahr¬
eines hypnotischen Experimentes ist auch das kleine Stück
hunderts,“ von Theodor von Sosnchky. (Verlag Cotta, Stuttgart.)
„Paracelsus“. Weiter nichts. Paracelsus, der bekannte Ge¬
Hans Benzmann.
heimgelehrte des Mittelalters, suggeriert der Gattin eines biederen
Handwerkers, die er einstmals liebte, daß sie einen Nachmittag
lang die Wahrheit sagen sollte. Nun erfahren wir vieles In¬
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teressante aus ihrem Seelenleben. Geheimnisse, die sie mit banger
Scheu hütete. Dazwischen spricht Paracelsus weisheitsvolle Worte
über Schein und Wirklichkeit und über die Wichtigkeit des
lebendigen Augenblicks, der allein der untrügliche sei. Diese
Sentenzen sind das beste an der kleine: Arbeit. Auch „Der grüne
Fräulein und Frau Doktor.
Kakadu“ ist nichts weiter als ein dramatisch gestalteter in¬
Kulturgeschichtliche Plauderei von Mar Bauer.
teressanter Einfall. Auch hier enthüllt ein Spiel mit dem Scheine
(Nachdruck verboten.)
Wahrheiten, die aber hier gefährlich werden, weil sie Wal¬

heiten des gegenwärtigen Augenblicks enthüllen. Der „grüte
„Alles schon dagewesen!“ Der alte Rabbi hat im Grunde
Kakadu“ ist eine Kneipe in Paris zur Zeit der Revolution. Hier
genommen nicht so unrecht. Viel, sehr viel, meye als Eure
sind heruntergekommene Schauspieler und liederliche Aristokraten
Schulweisheit sich träumen läßt von dem, was mä# niglich als
versammelt. Sie vergnügen sich damit, mit Pathos Ver¬
Errungenschaften unserer hohen Kultur, unserer Kunst, Wissen¬
brecherscenen, Diebstahl und Mord vorzuführen. Heuri, einer
schaft und Technik betrachtet, war längst vor unvordenklichen
der Schauspieler, hat sich soeben mit der schönen Leocadie ver¬
Zeiten da, nur machte es damals, anno dazumal ungleich weniger
mählt. Er stellt nun gerade mit Pathos dar, wie er einen Herzog
Aufsehen als heute, wo man sich eigentlich das Anstaunen neuer
getötet hat, weil seine Frau mit diesem ein Verhältnis ge¬
habt habe. Da erfährt er, daß die Untreue auf Wahrheit be= Erscheinungen schon abgewöhnt haben müsse. Dem Kulturforscher
ruht. Soeben kommt der Herzog in die Kneipe. Da tötet stoßen allenthalben Antiquitäten, längst abgethane und vergessene
Thatsachen auf, die eine frappante Aehnlichkeit mit „Haute Nou¬
ihn Henri nun wirklich. Das Stückchen ist als Lesestück recht
veautés“ besitzen.
langweilig. Lebhafter mag es auf der Bühne wirken. Gänzlich
Man fuhr bereits im 17. Jahrhundert im Automobil, wenn
erdacht und kalt wirkt das Stück: „Die Gefährtin“. Ein Professor
auch anders gekleidet, wie im zweiten Jahrtausend. Der ge¬
hat soeben die Gattin verloren. Die Begräbnisstim nung weht
schichtliche Dr. Faustus, nicht das Gebild Goethischer Phantasie
noch in das Zimmer, in dem sich jetzt der Professor und eine
und der deutschen Sage durchschnitt lange vor Fulton die Wellen
Freundin über die Verstorbene unterhalten. Es ist ihnen beiden
kein Geheimnis gewesen, daß die Verstorbene die Geliebte des der Donau auf einem Dampfboote; das Altertum hatte seine
Assistenten des Professors gewesen ist. Der Professor hat das Stenographen, ohne zu ahnen, daß sich Gabelsbergerianer,
in reiner Gleichgiltigkeit dem Leben gegenüber gelitten, er Rollerianer, Stolze= und andere vrianer tausend Jahre später
in den Haaren liegen werden; im „Agamennon“ von Aeschylus,
findet es natürlich, daß die zwanzig Jahre jüngere Gattin nicht
im Sueton und anderen klassischen Schriftstellern finden wir
bei ihm das Glück finden konnte. Der Assistent erscheint und
Nachricht vom Telegraphen und in einem Gedichte des augu¬
teilt dem Professor seine Verlobung mit einer anderen mit, die
stäischen Zeitalters sogar eine Vorahnung der Photographen.
er längst geliebt habe. Da erfaßt den Professor ein Ekel ¬
Blitzableiter schützten die Gebände des alten Pharaonenreiches
sein Weib ist nicht die Geliebte, sondern nur die Dirne eines
und Aut iaten der verschiedensten Konstruktion finden sich in
anderen gewesen, — was ihm als Schein galt, das Leben, es er¬
allen Kulturstaaten des Altertums vor. Gleich diesen Vor¬
faßt ihn plötzlich mit innerster Gewalt. Er weist dem Assistenten
erfindungen tauchen in früheren Epochen auch noch andere Er¬
die Thüre. Die Geschichte ist sehr wenig glaubhaft; aber als Ge¬
schichte könnte man sie gelten lassen, als Novelle, nicht als scheinungen auf, in denen wir das Allermodernste zu sehen ver¬
dramatisches Seelengemälde, das aufgeführt uns in seiner Kälte meinen.
Ja das „alles schon dagewesen!“ findet aber in keinem
gleichgiltig lassen und in seiner übergroßen Feinheit mühselig
Zweige des üppigen Baumes „Wissenschaft“ mehr Bestätigung,
erdacht und unwahr und wirr auf uns wirken muß.
Bedeutender als diese letzten Dramen sind Schnitzlers No= als in der Kulturgeschichte. Alte Schmöker, vergilbte Dokumente,
vellen. Ein Meisterstück der Seelenschilderungskunst ist schweinslederne Folianten und andere Dinge, durch welche man
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