VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 144

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2. Cuttings
seiner kleinen Versdramen sind auch bei uns, in Berlin, aufgeführt empfinden die Sünde auch nicht als Sünde, wohl aber gehen
worden.
ihnen die schönsten Illusionen verloren: das ist ihr Schmerz, doch
Der begabteste und glücklichste Dramatiker des jungen Wien
sie haben immer wieder neue Illusionen vorrätig. Die Wiener
Lebewelt weiß nichts von Decadence, sie lebt mit Anmut und
ist jedenfalls Arthur Schnitzler. Seit den erfolgreichen
Elegance, und ihr Dichter bedauert sie nicht, er belächelt sie und
Aufführungen seines Dramas „Liebelei“ an den besten europäischen
formt diese feinen Figuren, die von ihrer Zerbrechlichkeit nichts
Bühnen gehört er zu den internationalen Berühmtheiten.
wissen.
Arthur Schnitzler ist am 15. Mai 1862 in Wien (geboren.
Sein Vater, Professor der Laryngologie, war ein bekannter
Das nächste Werk „Das Märchen“ ist kein Meisterwerk. Der
Arzt. Der junge Schnitzler studierte Medizin in Wien, war
Dichter stellt in demselben eine Idee dramatisch dar. Fedor
darauf eine Zeit lang am Krankenhaus in Wien und später
Denner, der Held, will das „Märchen von den Gefallenen“ be¬
an der Poliklinik thätig. Seit etwa zehn Jahren lebt er als
seitigen. Aber an sich selbst muß er erfahren, daß wir trotz aller
praktischer Arzt in Wien. Schnitzler hat von frühester Jugend an
Ehrlichkeit unserer Ueberzeugung und unseres Wollens über die
geschrieben. In die Oeffentlichkeit ist er erst spät getreten. Die
dunklen Punkte im Vorleben der Geliebten nicht hinwegkommen.
ersten Novelletten, Gedichte, Dialoge veröffentlichte er 1886 und
Nun ist aber der Held vom Dichter anfangs so gezeichnet, daß er
1889 in der Wiener Zeitschrift „An der schönen blauen Donau“.
kraft eines ehrlichen Wollens und seiner starken Empfindung
Seitdem hat er mehrere größere Schauspiele: „Das Märchen,“
auch wohl über jene dunklen Punkte hinwegkommen kann.
„Liebelei,“ „Freiwild“, die Seenenfolge „Anatol“; das Drama:
Ebenso ist die Geliebte vom Dichter mit einem so leidenschaft¬
„Das Vermächtnis“, die drei Einakter: „Der grüne Kakadu“,
lichen und tiefen Empfinden ausgestattet, daß auch ein schwächerer
Mann sie nicht im Stiche gelassen hätte. Das Drama ist — sah
„Paracelsus“ und „Die Gefährtin“ und die Novellenbücher:
„Sterben“ und „Die Frau des Weisen“ geschrieben
stark rissig und es beweist nichts für noch gegen seine These.
Andere Fehler des Dramas sind die Massenanhäufungen toter,
Nicht alles, was Schnitzler geschrieben hat, ist gleichwertig.
d. h. nicht redender überflüssiger Personen und der schleppende
Als Höhepunkt seines Schaffens möchte ich einige der Anatol¬
Dialog.
scenen, die „Liebelei“ und die Novelle: „Sterben“ bezeichnen.
Bahr charakterisiert den Dichter in seinen Studien (Verlag Rütten
Das Drama „Liebelei“ hat den Dichter berühmt gemacht.
und Löning) sehr richtig, indem er folgendes über ihn sagt:
In diesem Stücke erscheinen neben Wiener echte deutsche Volis¬
„Was er bringt ist nichtig. Aber wie er es bringt, darf gelten.
typen. Christine ist eine der lieblichsten Mädchengestalten, welche
Die großen Züge der Zeit, Leidenschaften, Stürme, Erschütterungen
die moderne Poesie geschaffen hat. Sie ist das naiv liebende
der Menschen, die ungestüme Pracht der Welt an Farben und an
Mädchen mit der reinen, ungetrübta# Seele. Ihre erste Liebe
Klängen ist ihm versagt. Er weiß immer nur einen einzigen
muß ähr zum Verhängnis werden. Als männliche Haupt¬
charaktere treten wieder der Liebhaber und der Freund auf.
Menschen, ja nur ein eigenes Gefühl zu gestalten. Aber dieser
Gestalt giebt er Vollendung.“ Seine Eigenart ist die Grazie,
Der Freund ist hier ebenfalls Liebhaber, jedoch, im Gegensatz zu
mit der er alles erzählt und hinplandern läßt, der feine Dialog
dem Empfindenden, von seinem Gewissen geplagten, der ge¬
nießende, sorglose, wenn auch nicht herzlose, aber skrupellose. Seine 11.
und eine einfache doch charakteristische Sprache. Er liebt dann
Geliebte ist Mizzi Schlager, eine „Modistin“. Sie ist das schnei¬
und wann die geistreiche Phrase, ja er verschmäht die konven¬
tionelle Pose nicht. Nichtig sind einige der Anatolscenen, geistvoll dige, fesche Wiener Mädl, das Verhältnis comme il faut.
erdacht die letzten einaktigen Dramen. Er sollte immer auf seinem Sie liebt ihren Theodor nach ihrer Art, sie amüsiert sich mit
Stoffgebiete bleiben. Dieses ist die Welt des Wiener Lebe¬
ihm, sie geht mit ihm durch Dick und Dünn. Aber wenn er
sie verlassen wird, wird sie vielleicht einen Tag untröstlich sein,
mannes und der Wiener Grisette. Schnitzler hat diese beiden
Typen eigentlich für die Kunst entdeckt. Selbst wo er ernstere
dann wird sie sich fassen und sich nach einem andern umsehen.
Die Handlung ist eine sehr einfache. Fritz Lobheimer hat ein
Charaktere in den Vordergrund stellt, füllt jene Welt wenigstens
Liebesverhältnis mit einer verheirateten Frau. Während dessen
den Hintergrund. Die elegante Wiener Gesellschaft, mondaine
lernt er Christine durch ihre Jugendfreundin Mizzi kennen.
Damen, Offiziere, Studenten und Lebemänner mit ihren
„Liebeleien“, Schauspielerinnen und die „süßen Mädel“ der Vor¬
Immer mehr bezaubert ihn das frische, innige Wesen des
stadt, aber auch Cirkusdamen, Kokotten und Dirnen, das ist Mädchens. Aus einer „Liebelei“ wird eine echte, tiefe Liebe. Er
die begrenzte „leichtsinnig=melancholische“ Welt des Dichters, erkennt allmählich, daß ihm nun das wahre Glück erblühen
würde — da plötzlich bricht das Verhängnis herein. Der be¬
Diese Welt schildert uns der Dichter in der Scenenreihe
trogene Ehemann hat von dem Ehebruch erfahren. Fritz wird
„Anatol“. In diesen kleinen, dramatischen Scenen, die zu dem
im Duell erstochen. Als Christine erfährt, daß der Geliebte
Frühesten gehören, was der Dichter geschaffen hat, zeigt er eine
einer anderen wegen den Tod erlitten he, daß er sogar schon,
reife Meisterschaft in der Beherrschung des Dialogs und der
ohne daß sie von allem erfahren hat, begraben sei, da stürzt
ganzen dramatischen Technik. Diese Scenen hängen mit ein¬
sie sich ins Wasser. — Alles dieses ist von dem Dichter in der
ander nur lose zusammen. Nur die männlichen Personen kehren
einfachsten und wirkungsvollsten Weise dargestellt worden. Ein
in allen wieder. Jede Seene ist ein Liebeserlebnis Anatols.
Stück, welches den Erfolg voll verdiente.
Die zweite Person ist der Freund, ebenfalls eine typische Figur
Das Drama „Freiwild“ ist wie „Das Märchen“ ein Thesen¬
Schnitzlers. Der Freund ist immer der maßvolle, verständige
stück. Es behandelt den „Ehrbegriff“ und die „Duellfrage“.
Pylades, Anatol der weichherzige Schwärmer und Schwächling.
Erist der rechte Repräsentant der Decadence, des Skepticismus,
In den ersten Scenen wird uns das lustige Leben einer kleinen
ja des Marasmus. Langsam zerpflückt er eine Illusion nach
Theatergesellschaft und des Verkehrs derselben mit Offizieren
und Dandys geschildert. Noch hören wir das lustige Geplauder
der andern. Immer wieder lockt ihn das Leben und die Liebe.
Immer wieder kehrt er müde zu sich selbst zurück, um sich selbst der bunten Gesellschaft an der Theaterthür — da plötzlich
von neuem zu entfliehen. Er vermag nichts Ernstes zu thun, wird aus der Komödie eine Tragödie. Ein Offizier hat eine
er hat den Glauben an alles und vor allem an sich selbst Schauspielerin beleidigt. Der Maler Rönning, welcher dies in
verderbter Gesellschaft rein gebliebene Mädchen liebt, hat darauf
vollständig verloren. Er knüpft Liebesverhältnisse mit Dirnen
den Offizier geohrfeigt. Natürlich fordert der Oberleutnant den
und verheirateten Frauen an; aber draußen auf der Vorstadt
Maler. Dieser verweigert das Duell, er erklärt, daß er einen
da findet er erst ein letztes blasses Glück: das „süße Mädel“.
Buben gezüchtigt habe. Der Offizier muß, falls er keine Ge¬
In der Darstellung dieses Verhältnisses entdecken wir die liebens¬
uugthuung erhält, den Dienst quittieren. In seiner Verzweiflung
würdigsten Züge Anatols und seines Dichters. Mit wunder¬
schießt er den Gegner auf offener Straße nieder. Dem Dichter
barer Innigkeit weiß er uns diese schlichten Mädchen aus dem
ist es gelungen, uns während dieses Stückes in fortwährender
Volke zu schildern. Anatol liebt sie mit der ganzen Zärtlichkeit
Spannung zu erhalten. Atemlos folgen wir den Ereignissen
seiner sehnsüchtigen Seele, und sie lieben ihn mit ihrer ganzen
bis die Katastrophe eintritt. Ueberhaupt ist dieses Stück trotz
Natürlichkeit. Er schwärmt von ihrem kleinen Zimmer draußen
einiger Inkonsequenzen in den Charakteren geschlossener, ab¬
auf der Vorstadt mit den gemalten Wänden, mit den paar alten,
gerundeter, einheitlicher wie „Das Märchen“. Etwas lang ist der
verblaßten Kupferstichen, mit den Blumentöpfen am Fenster und
Dialog zwischen Rönning und seinem Freunde über das Duell;
mit der Aussicht auf die Dächer im Dunkel. Uebrigens wird
man bei Schnitzler nie eine Frivolität finden. Seine Helden aber das hier Gesagte gehört zur Handlung und so drängt sich