VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 148

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2. Cuttings
722 De Wendriner, Die Dichter von 1900. SaSBBDGBBBBD
smden. Niemals hat er versucht, aus seinem Erleben ein
mus begannen, bald ihre eigenen Wege gegangen. Hesse, der
großes geschlossenes Kunstwerk zu formen. Allzu be¬
Dichter des „Peter Camenzind“, schreibt jetzt „Märchen“
scheiden spricht er in seinen letzten Aufzeichnungen von
von einer solchen Kindlichkeit und Phantastik, von solch
seinem engbegrenzten Schreibtalent. Es erschien ihm als
wunderhafter Reinheit des Stils, daß man leicht die tiefe
die einzige Anständigkeit und Gescheitheit eines Menschen,
Lebensweisheit überhört, die uns aus ihnen entgegenklingt.
seinen Kräften gemäß zu sunktionieren. „Nicht mehr
Die Mutter des kleinen Augustin hatte vom Schicksal er¬
wollen als man kann, ist bereits genial.“ Und so plau¬
fleht, daß alle Menschen ihr Kind liebhaben sollten. Aber
dert er in seinem letzten Buche wie in seinem ersten bunt
der Knabe wurde es satt und überdrüssig, von unerbetener,
durcheinander von Liebe und Frauenschönheit, von der
unverlangter, unverdienter Liebe umgeben zu sein, er
Eifersucht und vom Selbstmord, von Strindberg und von
fühlte den Unwert seines vergendeien, zerstörten Lebens,
Gerhart Hauptmann, von der Historie, von Kindermi߬
das nie gegeben und immer nur genommen hatte. Leer
handlungen, von der Lucie Höflich. Er fühlt den Ernst
und verwüstet, unfruchtbar und ohne Liebe, floß ihm das
seiner Krankheit, das Nahen des Todes. „Man lebt ja
Leben dahin. Der Wunsch seiner Mutter war ihm zum
doch nicht ewig, und alles hat Gott sei Dank sein Ende.“
Fluch geworden, von dem ihn erst die Erfüllung seiner
Er philosophiert über seine Arzte und Medikamente, über
Bitte, daß er die Menschen liebhaben könne, erlöste. Man
schlaslose Nächte und über den Tod. Dazwischen ver¬
vergißt das kleine dunkle Zimmer in dem Häuschen des
streut er geistreich=witzige Einfälle über moderne Tänze,
alten Herrn Bießwanger nicht, in dessen schwarzem Kamin¬
über sein Stubenmädchen und über Frauenerziehung.
loch eine rote Flamme brennt, während glänzende Kinder
Immer wieder bricht sein Lebenshunger durch, seine Sehn¬
mit hellen, goldenen Flügeln nach einer süßen, geheimnis¬
sucht nach Sonne, nach dem Wiener Prater, nach schönen
vollen Musik in schönen Tänzen hin und her fliegen, man
Frauen. Und wie zum Abschied ruft er seiner alten
vergißt den Jahrmarkt von Faldum nia“ zu dem Bauern
Freundin Paula, da sie ein Kind erwartet, das hübsche
und Bäuerinnen, Meister, Gesellen und Leyrbuben, Knechte
Wort zu: „Ich wünsche dir ein leichtes Wochenbett,
und Mägde hinströmen, um das große Spiegelwunder zu
und im ersten Lächeln deines Kindchens einen Schimmer
erleben. Jede Erscheinung auf Erden wird für Hesse zu
von allem, was wir miteinander durch Jahre erlebt
einem Gleichnis, und jedes Gleichnis ist ihm ein offenes
haben.“
Tor, durch das die Seele, die bereit ist, in das Innere
Das süße Mädel war der Inhalt der Kunst der jungen
der Welt zu gehen vermag, wo die Menschen und Tag
Wiener, der Altenberg, Schnitzler und Hofmannsthal.
und Nacht alle eins sind.
Anatol, der junge leichtsinnige Genießer, war der Held
Hesse sand hinter dem Gleichnis des Märchens den Geist.
von Arthur Schnitzlers erster Dramenreihe. Unter
das ewige Leben. Emil Strauß findet das Gleichnis
verschiedenen Namen erzählt er uns immer wieder von
eines Menschenschicksals in der Geschichte seines Ahnherrn,
seinen Liebeleien. Heute, da Schnitzler selbst ein Fünf¬
er zeichnet das Leben seines Helden im Spiegel des Er¬
ziger geworden, schildert er die Tragik des Alterns, die
lebens seines Urgroßnaters. In einem stillen Hause wacht
letzten Abenteuer Anatols, die Heimfahrt Casanovas nach
ein einsamer Mann und stamt ins Dunkel des Zimmers.
Venedig. Nichts ist mehr in seinem Helden von dem
Er denkt zurück an seine Kindheit, an seine Jugend, an seine!
Abenteurer, der jung, schön und glücklich war, dem für
Tante Lotte, die ihm vertraut blieb als eine ungewohnte
eine Nacht auf einem Liebeslager alle Ehren dieser und
Erscheinung, die immer etwas mitbrachte und schenkte, wie
alle Seligkeiten jener Welt feil gewesen. Anatol=Casa¬
ein Apfelbaum, den ein Kind irgendwo auf den Feldern
nova bereut nichts, er hat sein Leben gelebt wie keiner,
fand und von dem es weiß, daß immer ein paar Apfel
und glaubt noch immer die Wollust von tausend Nächten
darunter liegen. Und er erinnert sich der Geschichte, die
über die Frauen zu sprühen, die ihm begegnen. Er will,
ihm diese feine stille Frau, da sie auf dem Totenbette
da er Casanova ist, das klägliche Gesetz zuschanden
lag, erzählt hat. Musik klingt uns entgegen, wenn sie
machen, dem andere unterworfen sind und das Altern
das Allerheiligste der Menschen ihres Geschlechts öffnet,
heißt. Er will sein Lebenswerk damit krönen, daß er in
Bach und Gluck, Mozart und Beethoven. Ursprünglich
Jahren, in denen andere sich zu einem trüben Greisentum
übten diese Menschen ihre Musik nur aus Freude und
bereiten, die Jüngste, die Schönste, die Klügste durch die
zur Freude, mit der Zeit aber wurde sie ihnen zum ein¬
ungeheure Macht seines unverlöschlichen Wesens gewinnt
zigen verständlichen und deutbaren Gleichnis des Lebens.
und sie für alle Zeiten zur Seinen macht.
Materielle Dinge gab es für diese Geigenspieler nicht,
Aber auch er erlebt die Tragödie des Alterns, tragi¬
die nicht einmal ein Vergnügen daran fanden, irdische
scher, fürchterlicher als alle anderen. Wohl kann er Kinder
Güter zu verschwenden, und die tagelang durch die Straßen
noch verführen und Mädchen durch Bestechung ihrer Lier¬
der Slädte gingen, ohne einen Heller in der Tasche zu
haber in tiefer Dunkelheit im Mantel des Geliebten über¬
haben. Eine feine leise Liebesgeschichte spielt hinein. Ein
listen. Aber er muß es erleben, daß sie sich, wenn sie
ernstes, schweres Buch, nachdenklich und bewegend, wie
ihn erkennen, vor Ekel und Grauen von ihm, dem alten
ein Hauch aus ferner vergangener Zeit, wie der Klang
Mann mit seinem gelben bösen Gesicht, seinem eingefolle¬
einer Sonate von Mozart oder Haydn, von müden Frauen¬
nen Hals und seinen Greisenhänden, abwenden. „Alter
händen auf einem Spinett leise verklingend gespielt.
Mann“. Das ist das Todesurteil des Abenteurers, der
Der Naturalismus der neunziger Jahre wurde von
als verachteter Polizeispion nach Venedig heimkehrt.
Peter Altenberg in seinem ersten Buche „Wie ich es
Ein Buch von letzter psychologischer Feinheit, ge
sehe“ überwunden. Schon der Titel war lautester Protest
schrieben im Stil der Kleistischen und Halmschen Novellen,
gegen den Versuch, die Welt zu sehen und zu schildern,
der Versuch einer objektiven Erzählung gleichsam als
wie sie war. In all seinen Büchern hat Altenberg die
Schlußkapitel von Casanovas Memoiren. Die Dichtung
Welt dargestellt, wie er sie sah, seine Welt, die uns
vom Altern, aber das Werk eines Poeten, von dem
aus seinen ersten Skizzen so persönlich anblickt wie aus
wir noch vieles zu erwarten haben. Denn das bleibt das
seinem letzten Buche, aus seinem „Lebensabend“. Peter
Charakteristische unserer Zeit: daß wir keinen literarischen
Altenberg war ein Erleber, kein Dichter, mehr oder
Nachwuchs besitzen, und daß die Männer von 1900 heute
weniger. Er fühlte sich selbst als das in den Menschen

noch unsere Liebe sind und unsere Hoffnung.
eingekerkerte und verrammelte bessere Denken und Emp¬
Der Ternich Shereich Feranageter Priche 6 Lang Mien 1. Kränmetstaste 3,
Veratwerlich für die Schrfteltung: Goten Raper in Lenig.
verentwortlich für die Schriftleitung: C. O. Friese. Wien I. Brännerstraße 3. — Copyright 31. Juli 1919 by Philipp Reclam jmn Leipzig.