VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 163

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Schauspielerin.
der Geringen alle Großen zur Lüge um ihrer höchsten Wahrheit willen
herabzwingt, wie in dieser Welt tapfere Seelen die Wahrheit ihrer
Persönlichkeit mit Lügen ihrer Lippen erkaufen müssen. Die siegreiche
Schauspielerin Leonie Hallmann steht gegen die Durchschnittsmensch¬
heit, die ihr Glanz und ihre Entrücktheit lockt und bei der wieder sie
Frieden, Wärme und Sicherheit zu finden hofft. Aber diese Sphären
sind unvereinbar. Das wird mit schmerzhaftester Folgerichtigkeit dar¬
gethan. Da es Leonies Beruf ist, mit Gefühlen zu spielen, die sie nicht
hat, so werden ihr im entscheidenden Moment die Gefühle nicht ge¬
glaubt, die sie hat, oder gar nur dann geglaubt, wenn sie auch diese
Gefühle spielt. Daran geht sie zu Grunde, vielfach zerspalten, wie sie
sich empfindet. Sie wird hin= und hergerissen zwischen Harry Seiler
und Robert Fork, zwischen ihrem Menschenthum und ihrem Künstler¬
thum, zwischen Selbstbewunderung und Selbstverachtung und noch
zwischen der Wollust und der Qual ihrer Zerspaltenheit. Sie braucht
beide Männer um ihrer Gegensätzlichkeit willen: sie braucht Harrys
Feinheit und Roberts Brutalität; sie braucht Reinheit und Lasterhaf¬
tigkeit, anbetendes Sklaventhum und befehlendes Herrenthum; sie
braucht den Typus, auf den sie „fliegt“, und den Typus, der erst lange
um sie werben muß; sie braucht lodernde Flammen und ein stilles
Herdfener. Sie belügt Keinen, nicht einmal sich selbst, wenn sie fast mit
den gleichen Worten Jedem von Beiden gesteht, daß sie im ganzen Le¬
ben keinen Anderen als ihn geliebt habe. Aber sie ermattet sich zwi¬
schen Beiden zu Tode, weil der grenzenlosen Aufrichtigkeit des Künst¬
lers nicht das Vertrauen der Bürger zu dieser Aufrichtigkeit entspricht.
Sie entgleiten und schwanken. Sie sind entweder zu weich oder zu kalt.
Sie wissen nicht, daß problematisch organisirte Menschen, wie diese
Leonie, nur die Umwege zum Ziel führen. Sie selber gehen den kurzen
und geraden Weg von Impulsen zu Worten und von Worten zu Tha¬
ten; und gehen irr, weil die Impulse schwach, die Worte zahm und die
Thaten klein sind. Es ist eine fast zu grelle Ironie, die Heinrich Mann
zum Schluß gegen die Bürger kehrt, wenn er Robert Forks Frau es
der toten Leonie zum Vorwurf machen läßt: nur sich gekannt, nur ge¬
spielt, sich sogar ihren Tod gespielt und nicht daran gedacht zu haben,
daß sie, Herr und Frau Fork und Herr Harry Seiler, „fühlende Men¬
schen" sind. Es ist eine überdeutliche Erklärung der dichterischen Ab¬
sichten, die obendrein zu spät kommt. Der Dramatiker Heinrich Mann
hat eben vorläufig noch zu selten die Fähigkeit, die unberechenbaren
Plötzlichkeiten temperamentvoll handelnder Menschen anders als durch
Knalleffekte, die jäh auffluthenden Stimmungen differenzirter Seelen
anders als durch direkte Formulirungen auszudrücken. Die Personen
eines guten Dramas haben Selbstverrath zu treiben und nicht vom
Autor verrathen zu werden. Daß der Verfasser der „Schauspielerin“,
an Handwerkszeug und Arbeitmethode des Epikers gewöhnt, nicht
immer kann, was er soll, scheint mir entschuldbar. Es ist ja viel, daß
ers doch schon zu einem Drittel kann.
Siegfried Jacobsohn.