2. Cuttings
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dürfen — auf irgendeinem Wege zu einer sichern Herrschaft über
die Bühnenform erwächst, so könnten wir an diesem weltmannisch
resignierten und doch menschlich warmen und sittlich fordernden
Künstler etwas haben wie ein etwas mehr nördliches, etwas mehr
männliches, etwa mehr aktives Widerspiel Arthur Schnitzlers. Und
das wäre, wie mir scheint, nicht wenig für unsre Bühne, die einst¬
weilen mit den unwiderruflich einmaligen Aufführungen von Genie
proben so ähnlich genährt wird, wie unser Vetter Hamlet: Ich
esse Luft, ich werde mit Versprechungen gestopft. Kapaune##kann
man nicht so mästen.“
Oscar Sauer von Harry Kahn
Jenn man in Otto Brahms Lessing=Theater vor Ibsen oder
2 Hauptmann saß, beschlich einen nicht selten der Gedanke:
Wie komme ich eigentlich dazu, Fensterscheiben in fremden Häusern
einzuschlagen und mich um die Familienangelegenheiten andeer
Leute zu scheren? Die Empfindung, daß dies ein Spiel sei, was
da vor sich ging, verkümmerte mehr und mehr und verschwand
bald so gut wie ganz. Da war keine Distanz mehr zwischen Mensch
und Bild, kein Abgrund zwischen Sein und Schein. Das war nicht
mehr ein Brettergerüst, sondern ein richtiger Parkettöoden; das
waren keine Versatzstücke zwischen drei Leinwandwänden, son¬
dern das Zimmer einer Wohnung, deren Mietspreis zu schätzen
man versucht und vielleicht sogar in der Lage war. Das war
nicht Theater, sondern Leben. Es hatte im besten und bösesten
Sinne nichts mehr mit Kunst zu tun.
Ich gedenke nicht, das hier langweilig zu beweisen. Wer nicht
einsehen kann oder nicht einsehen mag, daß Tierstimmenimitation
keine Kunst und das berühmte Märchen von den Trauben des
Apelles, an denen die Vögel naschten, eben ein Märchen, aber
keinerlei Argument für die Künstlerschaft des antiken Malers ist:
dem läßt sich solches nicht mit der kniffligsten Doktorarbeit klar¬
machen. Kunst ist Kunst; und das Leben ist das Leben. Und die
Beziehungen zwischen den beiden Begriffen stehen unter so be¬
stimmten Gesetzen wie die zwischen der Zahl Eins und der Zahl
Hundert. Nur ein Charlatan kann die beiden ineinander aufgehen
machen wollen. Nur ein Taschenspieler wider Willen konnte sich
drum auch jenes Gefühls fast verächtlicher Indiskretion erwehren,
wenn er Frau Kammerherr Lehmann und Herrn Pastor Sauer
von der Liebe ihrer Jugend mit einander sprechen hörte, und ich
für mein Teil fühlte mich immer schon von Mitteldorf am Kragen
gepackt und wegen unbefugten Eindringens in ein Amtslokal an
die Luft gesetzt, wenn die Waschfrau Else Wolff dem Amtsvor¬
steher Oscar von Wehrhahn den kuriosen Fall mit dem Biberpelz
auseinandersetzte.
Wahrhafte Kunst ist Gnade und Wunder. Darum kann man
aber doch sagen: Wo das Wunder anfängt, hört die Kunst auf. Das
416
kann Thomas Mann kaum mehr lieben
tue. Die „Buddenbrooks“ sind der einzig
deutschen Generation, den ich bereits zum
ich hoffe, ihn vor meinem Tode noch mind
Aber es ist zweifellos ein Irrtum, zu glau
Klarheit, Straffheit und Zielsicherheit diese
elementarer Rauschkräfte entsprungen sei
und persönliches Bekenntnis Thomas Man
gewiß, daß diese Kunst ein (sittlich höchst
erneutes Sich=Aufraffen bewußten Willens
sinkenden Müdigkeit ist. Diese Müdigkeit
kann auch etwas Rauschhaftes haben. 2
deren Bekämpfung der Wille allein noch
dem großen Zeugungsrausch der Beginnen
biert, verwechselt werden. Sonst käme
und Watteau, Béethoven und Chopin, Go¬
jewskij und Arthux Schuitzler auf eine
dem Rausch der Jugendkraft erhält die M
neuerer und Vorkämpfer; aus dem Rause
Zeit= und Schicksalsgenossen ihre oft gefäh
so edler Willensspannung — erziehlichen,
glückenden Gefährten. Diese beiden Phaen
verwechseln. Bruno Frank aber ist uns ga
schmerzlich lieber und in seiner edlen Halt
Sein bewegendes Gewicht gibt das Sinke
nicht der vulkanische Auftrieb aus dem Er
Bruno Franks reife Novellenbände!
Straffheit und Zielsicherheit der Formg#
aber sie heißen „Flüchtlinge“ und „Der H
und die resignierte, sinkende Geste dieser
Ursprung und Gehalt dieser kleinen Kunst
auch in der Mo#osetzung Variationen
themas. Meist etwas verengt im Forma
und, was damit zusammenhängt, im Pat
türlich sind die Menschen „ohne Waffe
Bruno Franks nennt, Thema; Mensch
Kunst, all=liebenden Verstehens in sich ha
ihre bürgerliche Existenz zerfrißt wie
kleine Bürger, wenn er an der „Melodie B
in seine Seele verfangen hat, hinschwind
Umriß das Schicksal Thomas Buddenbr
der, von einem unbürgerlichen Rausch
Hochstaplern sein Abenteuer in Venedig“
ironisiert, doch nur ein unbegabterer Ve
Aschenbach, den Thomas Mann im gl
finden läßt. (Bruno Franks Novelle i
Weise früher entstanden als Thomas
ahmungen, die zeitlich dem Original vo
S
S D
RR
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dürfen — auf irgendeinem Wege zu einer sichern Herrschaft über
die Bühnenform erwächst, so könnten wir an diesem weltmannisch
resignierten und doch menschlich warmen und sittlich fordernden
Künstler etwas haben wie ein etwas mehr nördliches, etwas mehr
männliches, etwa mehr aktives Widerspiel Arthur Schnitzlers. Und
das wäre, wie mir scheint, nicht wenig für unsre Bühne, die einst¬
weilen mit den unwiderruflich einmaligen Aufführungen von Genie
proben so ähnlich genährt wird, wie unser Vetter Hamlet: Ich
esse Luft, ich werde mit Versprechungen gestopft. Kapaune##kann
man nicht so mästen.“
Oscar Sauer von Harry Kahn
Jenn man in Otto Brahms Lessing=Theater vor Ibsen oder
2 Hauptmann saß, beschlich einen nicht selten der Gedanke:
Wie komme ich eigentlich dazu, Fensterscheiben in fremden Häusern
einzuschlagen und mich um die Familienangelegenheiten andeer
Leute zu scheren? Die Empfindung, daß dies ein Spiel sei, was
da vor sich ging, verkümmerte mehr und mehr und verschwand
bald so gut wie ganz. Da war keine Distanz mehr zwischen Mensch
und Bild, kein Abgrund zwischen Sein und Schein. Das war nicht
mehr ein Brettergerüst, sondern ein richtiger Parkettöoden; das
waren keine Versatzstücke zwischen drei Leinwandwänden, son¬
dern das Zimmer einer Wohnung, deren Mietspreis zu schätzen
man versucht und vielleicht sogar in der Lage war. Das war
nicht Theater, sondern Leben. Es hatte im besten und bösesten
Sinne nichts mehr mit Kunst zu tun.
Ich gedenke nicht, das hier langweilig zu beweisen. Wer nicht
einsehen kann oder nicht einsehen mag, daß Tierstimmenimitation
keine Kunst und das berühmte Märchen von den Trauben des
Apelles, an denen die Vögel naschten, eben ein Märchen, aber
keinerlei Argument für die Künstlerschaft des antiken Malers ist:
dem läßt sich solches nicht mit der kniffligsten Doktorarbeit klar¬
machen. Kunst ist Kunst; und das Leben ist das Leben. Und die
Beziehungen zwischen den beiden Begriffen stehen unter so be¬
stimmten Gesetzen wie die zwischen der Zahl Eins und der Zahl
Hundert. Nur ein Charlatan kann die beiden ineinander aufgehen
machen wollen. Nur ein Taschenspieler wider Willen konnte sich
drum auch jenes Gefühls fast verächtlicher Indiskretion erwehren,
wenn er Frau Kammerherr Lehmann und Herrn Pastor Sauer
von der Liebe ihrer Jugend mit einander sprechen hörte, und ich
für mein Teil fühlte mich immer schon von Mitteldorf am Kragen
gepackt und wegen unbefugten Eindringens in ein Amtslokal an
die Luft gesetzt, wenn die Waschfrau Else Wolff dem Amtsvor¬
steher Oscar von Wehrhahn den kuriosen Fall mit dem Biberpelz
auseinandersetzte.
Wahrhafte Kunst ist Gnade und Wunder. Darum kann man
aber doch sagen: Wo das Wunder anfängt, hört die Kunst auf. Das
416
kann Thomas Mann kaum mehr lieben
tue. Die „Buddenbrooks“ sind der einzig
deutschen Generation, den ich bereits zum
ich hoffe, ihn vor meinem Tode noch mind
Aber es ist zweifellos ein Irrtum, zu glau
Klarheit, Straffheit und Zielsicherheit diese
elementarer Rauschkräfte entsprungen sei
und persönliches Bekenntnis Thomas Man
gewiß, daß diese Kunst ein (sittlich höchst
erneutes Sich=Aufraffen bewußten Willens
sinkenden Müdigkeit ist. Diese Müdigkeit
kann auch etwas Rauschhaftes haben. 2
deren Bekämpfung der Wille allein noch
dem großen Zeugungsrausch der Beginnen
biert, verwechselt werden. Sonst käme
und Watteau, Béethoven und Chopin, Go¬
jewskij und Arthux Schuitzler auf eine
dem Rausch der Jugendkraft erhält die M
neuerer und Vorkämpfer; aus dem Rause
Zeit= und Schicksalsgenossen ihre oft gefäh
so edler Willensspannung — erziehlichen,
glückenden Gefährten. Diese beiden Phaen
verwechseln. Bruno Frank aber ist uns ga
schmerzlich lieber und in seiner edlen Halt
Sein bewegendes Gewicht gibt das Sinke
nicht der vulkanische Auftrieb aus dem Er
Bruno Franks reife Novellenbände!
Straffheit und Zielsicherheit der Formg#
aber sie heißen „Flüchtlinge“ und „Der H
und die resignierte, sinkende Geste dieser
Ursprung und Gehalt dieser kleinen Kunst
auch in der Mo#osetzung Variationen
themas. Meist etwas verengt im Forma
und, was damit zusammenhängt, im Pat
türlich sind die Menschen „ohne Waffe
Bruno Franks nennt, Thema; Mensch
Kunst, all=liebenden Verstehens in sich ha
ihre bürgerliche Existenz zerfrißt wie
kleine Bürger, wenn er an der „Melodie B
in seine Seele verfangen hat, hinschwind
Umriß das Schicksal Thomas Buddenbr
der, von einem unbürgerlichen Rausch
Hochstaplern sein Abenteuer in Venedig“
ironisiert, doch nur ein unbegabterer Ve
Aschenbach, den Thomas Mann im gl
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