VII, Verschiedenes 2, 50ster Geburtstag, Seite 68

M.
geheure Mannigfaltigkeit von Eigenschalten im Seelen¬
Marktware geschrieben.
komplex jedes einzelnen. Seine Menschen sind kom¬
Der fünfzigjährige und doch so jugendfrische Dichter!
pliziert, zerklüftet, schwankend. Sie sind immer im
hat eine große andächtige, nicht bloß numerisch,
Fluß. Was man an ihnen tadeln könnte, ist, daß sie
sondern auch qualitativ überaus starke Gemeinde in
keine Spur von Lebensfreude haben. „Ich finde die
Wien, die es sich angelegen sein lassen wird, das er=
Lebensfreude — sagt Strindberg aber einmal
reichte halbjahrhundertste Lebensjahr ihres Apostels!
den starken grausamen Kämpfen des Lebens.“
würdig zu begehen.
2. 2. er
Diese Lebensfreude war ihm selber reichlich zuteil
In' der
geworden. Von dem Opus des Zwanzigjährigen „de
Ein merkwürdiges Wahlprograte Werk 18
creatione ct sentenzia vera mundi“, das die
Harmand, Grundst icksmakler und Häuservermittler in Residen;
Mysterien der inneren Kämpfe darstellt, bis zum
Longuyon, hat seine Mitbürger mit einer eigenartigen
Bearbei
„Blaubuch“ des Sechzigjährigen kann man eine gerade
Kundmachung beglückt. „Das Gesetz“, sagt er im Eingang
kinder“
Linie ziehen, die den Weg eines genialen Menschen
des Manisests. „ermächtigt Euch, einen neuen Gemeinderat
man sich
bezeichnet, der stark gelitten, grausam gekämpft, viel
zu wählen. Ihr braucht aber für diesen Gemeinderat einen
Mann. Longuyon besitzt ihn und ahnt es nicht: ich selbst von H
erfahren und ungeheuer viel gelernt hat. Ueberblickt
bin dieser Mann. Aus Temperament bin ich Republikaner, Anti= und
man ihn, dann erkennt man in Strindberg den ewigen
worden
bilist (gegen die Schwarzgalligkeit) und Antiasthmatiker.
Renegaten; einen Rebell, der den Himmel stürmt; einen
anteil d
Alle vier Jahre derselbe Schwindel. Ihr werdet einsehen,
Uebermenschen, der die Erde vernichtet und von neuem
daß dies noch bis zum Weltuntergang so weiter gehen
einem n
gestaltet; der die Götter erst untersucht, ehe er sich zu
kann. Man hat Euch den Mond versprochen, und Ihr
sich Fra
ihnen bekennt, und denen er abtrünnig wird, wenn sie
habt Euch auf die Versprechungen verlassen: aber habt
an die
nicht gehalten, was er erhoffte; einen Menschen
Ihr etwas davon zu sehen bekommen? Ich verspreche
ward t
schließlich, der ein Kind war und geblieben ist und nur reale Dinge“. Und Herr Harmand zählt auf, was
lotte #
seine Wähler von ihm erhoffen dürfen: „Wenn ich
der noch als Greis an das Leben glaubte als an ein
Keldt
gewählt werde, vertrinke ich in jedem Kaffeehause
Märchen. Denn das klingt immer wieder auch in
auch K
50 Francs.“ Dadurch sind nicht nur die Kaffeehausbesitzer,
seinen Briefen an mich durch: „Sie müssen zum
und G¬
sondern auch die Weinhändler und die Kaffeehausgäste, die
Kinde werden, schöne Märchen lieben und glauben,
Rhythn
freigehalten werden, an Hamands Erfolg interessiert.
wie unglaublich sie auch erscheinen. Dann kommt
„Euch, meine Herren Bäcker“, heißt es weiter, „kaufe ich
ersten I
das himmlische Glück“.
Brot ab, und Euch, meine Herren Kuchenbäcker, Kuchen.
deutsch
Nun er tot ist, möchte man Zwiesprach halten
Ich nasche gerne und liebe Lecereien. Wenn Ihr für mich
hin m
können mit seinem Geist, um etwas von dem Märchen
stimmt, verdoppele ich meine Bestellung, damit meine Gäste,
gemälde
die alle Süßmäuler sind, reichlich zu essen bekommen.“
des Himmels zugerfahren, an das seine gottesdurstige
Leitung
Den Fleischern und Wurstmachern wird das gleiche ver¬
Seele wähn#nd ihrer Erdentage immer geglaubt hat.
sprochen. Den Brauern gegenüber könnte Harmand in
einige Verlegenheit geraten, denn er trinkt nur Wein;
Au¬
Artur Schnitzler.
aber er hebt hervor, daß er ihnen, so oft er in der Stadt
Direkto
oder in der Umgegend ein Grundstück für ein neu zu er¬
Unser Wiener Korrespondent schreibt uns:
Magdel
öffnendes Lokal verkauft, neue Absatzgebiete verschafft. Den
Artur Schnitzler wirklich schon Fünfzig?
Dienstboten ruft er ins Gedächtnis, daß er ein Stellen=spielen,
Wenn's nicht verbürgt wäre und die allergetreuesten
Magdel
vermittlungsbureau begründet hat. Er hat allen Ständen
Biographen des liebenswürdigen Wiener Poeten es
Verdienst und Arbeit verschafft und wird, wenn er gewählt
Ensem!
nicht authentisch verzeichnet hatten, müßte man das
werden sollte, ihnen noch weit mehr Arbeit ins Haus bringen.
eine#
Er wird der Wohltäter aller Geschäftsleute sein, und wenn
für ein Märchen halten, denn nichts an Schnitzler,
Frau
sie sich einmal ihres Geschäfts entledigen wollen, wird er
weder in seiner frischen Schaffenskraft, noch in seiner
(abgese!
sicher „einen Esel“ finden, der es ihnen für einen
äußeren Erscheinung deutet darauf hin, daß er diesen
treffen
recht guten Preis abkaufen wird. Die Aerzte, die Apotheker
Zenithpunkt erreicht hat. Und doch: Schnitzler erst
Besetzu
sind ihm Dank schuldig; es gibt deren sechs in Longuyon,
Fünfzig? Zieht man die Bilanz seines bisherigen
führung
und welchen von ihnen hätte er noch nicht beschäftigt?
Schaffens, untersucht man namentlich seine Produktion
zwischet,
Beklagen könnte sich nur der Tierarzt; aber Herr Harmand
in den letzten Jahren kritisch, so würde man glauben,
Drama
entschüldigt sich bei ihm so nett: „Herr Peccavy“ schreibt
daß die abgeklärte Weisheit eines viel längeren
er, „Sie besuchen mich nicht allzu oft; es ist aber nicht
Mittwo
meine Schuld, daß Sie Asthmatiker nicht behandeln; ich
Lebens sich da kundgiebt. Artur Schnitzler ist seiner¬
des De¬
gab Ihnen jedoch zwei Francs dafür, daß Sie meiner
zeit der Begründer und durch eine geraume Epoche
gab an
Ich bin also
Katze den Schwanz gekürzt haben.
der Führer der sogenannten Jungwiener Schule ge¬
Teile
immerhin Ihr Kunde.“ Herr Harmand setzt dann aus¬
wesen. Er ist aber dann seine eigenen Wege gegangen
Vernei¬
einander, daß man im Stadtrat einen tüchtigen Mann
und mit der sogenannten Jungwiener Schule
braucht, der sich durch Formalitätenkram nicht irre machen Wieder
von heute hat er eigentlich nichts mehr gemein. Er
komme
läßt. Dieser tüchtige Mann ist gleichfalls nur er. Zuletzt
ist einer von den wenigen Neidlosen, einer von denen,
teilt der sonderbare Kadidat den Wählern mit, daß er ihnen
abgesch
keine Wahlzettel ins Haus schicken wird. „Meine Gegner
die gleichwie Hermann Bahr, jungen Talenten nicht
als G
werden Euch solche Zettel schicken. Streicht einfach den
bloß mit freundlichem Zuspruch sich zuneigen, sondern
Adele
Namen des dümmsten von ihnen aus und setzt dafür den
ihnen auch die Wege ebnen helfen. Schnitzler ist,
ging?
Namen Harmand. Hoch Frankreich! hoch die Republik!
so wenig im engeren Sinne Lokales auch seine Werke
Regies
hoch Harmand!“
an sich haben, doch ein echter Wiener Poet. Die
wußte,
Napoleons Degen. Schon während der Verbannung
Psyche seiner Gestalten ist von besonders fesselndem
heutige
Napoleons wurde in Paris ein schwungvoller Handel mit
Reiz, und man wird kaum einen von unserer neueren
Komöd
historischen Degen getrieben, die der Kaiser geführt haben
großen deutschen Bühnendichtern zu nennen vermögen,
welche?
sollte. Nach seinem Tode setzte man den Reliquienhandel
der Schnitzler in der Psychologie seiner Figuren über¬
haus i
fort, aber man sing doch an, gerade den Degen gegenüber
legen wäre. Dies rührt vielleicht daher, daß Artur
selbst 9
vorsichtig zu werden. Denn es ist sehr zweifelhaft, ob
als S
Schnitzler durch die harte Schule des Mediziners ge¬
Napoleon seit seinem Austritt aus dem eigentlichen
gangen ist. Er hat auf dem Seziertisch sozusagen das
doch g.
Truppendienst, das heißt als erster Konsul und Kaiser die
Waffe öfter gewechselt hat, zumal er mit einem gewissen
Innere des Menschen kennen gelernt, und nicht wenig
Gestal
Aberglauben an Dingen hing, die er in glücklichen Tagen
schatti,
zu seiner seelischen Erforschung mag die ärztliche Ab¬
getragen hatte. Im Kampfe soll Napoleon nur dreimal
beseelt
nahme der Beichten bei der großen Zahl seiner
zu
in die Lage bekommen sein, den Degen
so sin
Patienten beigetragen haben.
gebrauchen. Das erstemal tat er es während des
Das Sterben hat keiner vor Schnitzler so ergreifend,
mit d
Rückzuges aus Rußland 1812, einen Tag nach der
Gesell
so wahr, so menschlisch schön geschildert. Die Wiener,
Schlacht von Mala=Jaroslawez, als ein Trupp Kosaken
wider
namentlich aber die Wienerinnen, schätzen Artur
ihn und seinen Stab heftig bedrängte. Das zweitemal war
Schnitzler als den großen Sänger der Liebe,
der Vorgang noch dramatischer. Es war bei Arcis=sur¬
burge
Aube 1814, als die Kavalleriedivision des Generals Colbert
der Liebe mit all' ihren Abstufungen, mit ihren süßen
ihm :
gegen die Oesterreicher und Russen vorrückte, aber, von
Reizen und ihren herben Schmerzen. Mit leichter
mörderischem Kartätschenfeuer empfangen. Kehrt machen
Aquarellfarbe hub er an, als er seine „Anatol“=
mußte und von den Kosaken verfolgt wurde. Als
Szenen schuf, und ganz realistisch, um nicht zu sagen
Napoleon das sah, geriet er außer sich vor Zorn; er
naturalistisch war er im „Reigen“ — diesem Buch,
spornte sein Roß an und sprengte mitten in den Knäuel
Er wollte den
das er allerdings nicht hätte der großen Oeffentlich¬
der Fliehenden und Verfolger.
keit übermitteln sollen, die nur das Sinnliche
Degen aus der Scheide reißen, es gelang ihm jedoch
werd.
daraus nahm und nicht die Absicht des Dichters ver¬
nicht: die Waffe war offenbar eingerostet. Erst mit Hilfe
eine
ihm, die Klinge
stand. Sein chef d’oeuvre aber ist „Liebelei“
eines Adjutanten gelang es
punk
lockern, worei er sich an der Hand verletzte. Inzwischen
blieben, diese packende Lebensschilderung, diese grandiose
unte¬
war bereits ein Teil der flüchtigen französischen Reiterei
Wiedergestaltung eines Menschenschicksals. Die
seine
bis vor Arcis gekommen. Der Kaiser holte sie ein, machte
Christine der „Liebelei“ wird immerdar als eine der
liche
vor dem Brückenkopf halt und rief, den Degen schwingend:
reinsten und tiessten Schöpfungen der zeitgenössischen
Kün
„Wer wagt es, mich niederzureiten!" Die fliehenden
Literatur, speziell der Wiener Bühnendichtkunst an¬
Stü
Truppen machten wie angedonnert Halt, wandten die Rosse,
gesehen werden.
griffen den Feind mit Todesverachtung von neuem an und
The¬
Ein Wahrheitssucher und ein Wahrheitsfinder, hat
schlugen ihn zurück. Das dritte und letzte Mal zog
Zur
Napoleon den Degen bei Waterloo, als er am Abend, von
Artur Schnitzler niemals die feinen ästhetischen Grenz¬
einem Karree seiner alten Garde geschützt, die Flucht er¬
linien verlassen, in seinem Denken und Schaffen, in
griff. Noch einmal wollte er in dumpfer Verzweiflung den
der Verfolgung seiner Ziele, ist er immer lauter und
Kampf wieder aufnehmen, aber bald ließ er die Waffe
vornehm geblieben. Nicht das sexuelle Moment in
Dr.
sinken und ergab sich in sein Schicksal.
der Ehe, sondern die geistige Zusammen¬
Ur
„Der Gardegraf“ ist der Titel eines humoristischen
gehörigkeit zwischen Mann und Frau, zwischen
„T
Ehemann und Eheweib beschäftigt ihn in seinen Romans, den Freiherr v. Schlicht soeben im Verlag Carl
Reißner, Dresden, hat erscheinen lassen, und der zugleich
Werken: als Muster dieser Gattung können „Zwischen¬