SothBirthday
19
rucht vom Baume der Erkenntnis brach. Denn
lles Leben ist Betrug und Selbstbetrug. Das
t der Wechselstrom von Mensch zu Mensch, trotz
ller Wahrheit, aller Ehrlichkeit. Wir schaukeln
zvig zwischen Wirklichkeit und Schein.
Schnitzlers Ruhm begann mit der Veröffent¬
chung der Anatol -Szenen, die uns schon durch
hren Namen auf die Spur französischen Ein¬
usses setzen. Aber in den sanguinischen Grund¬
pon der Abenteuer, die Schnihzler den aus
keichtsinn und Melancholie gemischten Genießer
Anatol erleben läßt, klingt herb ein Weh, das
icht verhallen will. Aehnlich geht es uns
nit der Novelle vom „Leutnant Gustel“, der
neisterhaften psychologischen Analyse „Frau Berta
Barkans“, dem Novellenzyklus „Dämmerseelen“
und dem dramatischen „Zwischenspiel“, in dem
Schnitzler die Eheirrung des Kapellmeisters
madeus Adams und seiner abenteuergierigen
Frau Cäcilie an uns vorüberziehen läßt. In de¬
Liebelei“ haben die letzten Spuren des
Theatralischen einer schlichten zwingenden Tragik
Platz gemacht, und man muß in der modernen
Literatur schon sehr lange suchen, um Schnitzlers
hristine eine gleich liebenswerte Gestalt
die Seite stellen zu können, trotz
n
der Sentimentalität, die sie zuletzt umgibt.
Und wem hätte nicht die Bettlergeschichte „Vom
linden Geronimo und seinem Bruder“ oder die
Erzählung „Andreas Thameyers letzter Brief“
ans Herz gegriffen? Wen zöge nicht der echteste
Wroßstadtathmosphäre ausströmende Roman
„Der einsatge Weg“ in seinen Bann, wer bliebe
hart bei der Schilderung des langsamen Unter¬
ganges des Schwindsüchtigen in der Novelle
Sterben“, die vielleicht das stärkste seiner Prosa¬
werke ist?
box 39/1
Als Schnitzlers männlichere Leidenschaften die
Oberhand gewonnen hatten, brach seine Liebe für
das Historische stark hervor, und es entstanden
jene Dramen von der Art des „Grünen Kakadu“.
wo das Spielen zwischen Schein und Wirklichkeit
ebenso deutlich wird, wie im „Paracelsus“ das
Ineinander von Wirklichkeit und Traum. Im
„Schleier der Beatrice“ zeichnet der Dichter den
Heißhunger nach Glück und die Enttäuschung, die
dem lebensdurstigen Filippo schließlich die Waffe
in die Hand drückt, die ihn von aller Erdenqual
befreit. So wird das Weib der Feind, der die
Sehnsucht nach Glück bestraft, der Feind, der
letzten Endes Sieger bleibt. In neuerer Zeit ist
Schnitzler zum historischen Drama zurückgekehlt,
indem er im „Jungen Medardus“ das Wien von
1809 zum Schauplatz leidenschaftlicher Kämpfe
machte. Auch hier ist das Weib der rollende Ball,
den die Männer zu werfen glauben, und der
immer wieder selber trifft. Der Roman „Der
Weg ins Freie“ endlich ist eine Verstehen und
Liebe heischende Geschichte der gegenwärtigen
jüdischen Strömungen und wie alle Bücher
Schnitzlers von dem Pulsschlag starken inneren
Erlebens durchglüht und geadelt.
So ist Arthur Schnitzler weit über jene Erst¬
lingswerke der Liebespsychologie hinausgewach¬
sen, die seine starke Position in der zeitgenossischen
Literatur begründeten, und es liegt eine schwere
Ungerechtigkeit darin, ihn immer nur als den
Dichter des „Süßen Mädels“ abzutun. Der Tod
der Menschen, die er als Arzt hat ringen und
sterben sehen, ist nicht spurlos an ihm vorüber¬
gegangen, und der Gedanke an das Nachher faßt
ihn mit Schauern an, weil weder der Glaube noch
die Wissenschaft hier Antwort geben, die ihn
trösten kann. „Warum reben Sie vom Sterben?“
heißt es im „Einsamen Weg“, und die Antwort
lautet: „Gibt es einen anständigen Menschen,
der in irgendeiner guten Stunde an etwas an¬
deres denkt?“ Wer so vom immer gegenwärtigen
Todesgedanken begleitet wird, für den gibt es
kein lässiges Erfassen der Lebensidee, der hält mit
allem, was er denkt und dichtet, wie Ibsen,
Gerichtstag über sein eigenes Selbst. Der sucht
mit allen Fühlern nach den versteckten Triehet
der Seele, wenn sie im Dunkel tastet, und leidet
wenn sich die arme im Glücke betrügt. .“
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rucht vom Baume der Erkenntnis brach. Denn
lles Leben ist Betrug und Selbstbetrug. Das
t der Wechselstrom von Mensch zu Mensch, trotz
ller Wahrheit, aller Ehrlichkeit. Wir schaukeln
zvig zwischen Wirklichkeit und Schein.
Schnitzlers Ruhm begann mit der Veröffent¬
chung der Anatol -Szenen, die uns schon durch
hren Namen auf die Spur französischen Ein¬
usses setzen. Aber in den sanguinischen Grund¬
pon der Abenteuer, die Schnihzler den aus
keichtsinn und Melancholie gemischten Genießer
Anatol erleben läßt, klingt herb ein Weh, das
icht verhallen will. Aehnlich geht es uns
nit der Novelle vom „Leutnant Gustel“, der
neisterhaften psychologischen Analyse „Frau Berta
Barkans“, dem Novellenzyklus „Dämmerseelen“
und dem dramatischen „Zwischenspiel“, in dem
Schnitzler die Eheirrung des Kapellmeisters
madeus Adams und seiner abenteuergierigen
Frau Cäcilie an uns vorüberziehen läßt. In de¬
Liebelei“ haben die letzten Spuren des
Theatralischen einer schlichten zwingenden Tragik
Platz gemacht, und man muß in der modernen
Literatur schon sehr lange suchen, um Schnitzlers
hristine eine gleich liebenswerte Gestalt
die Seite stellen zu können, trotz
n
der Sentimentalität, die sie zuletzt umgibt.
Und wem hätte nicht die Bettlergeschichte „Vom
linden Geronimo und seinem Bruder“ oder die
Erzählung „Andreas Thameyers letzter Brief“
ans Herz gegriffen? Wen zöge nicht der echteste
Wroßstadtathmosphäre ausströmende Roman
„Der einsatge Weg“ in seinen Bann, wer bliebe
hart bei der Schilderung des langsamen Unter¬
ganges des Schwindsüchtigen in der Novelle
Sterben“, die vielleicht das stärkste seiner Prosa¬
werke ist?
box 39/1
Als Schnitzlers männlichere Leidenschaften die
Oberhand gewonnen hatten, brach seine Liebe für
das Historische stark hervor, und es entstanden
jene Dramen von der Art des „Grünen Kakadu“.
wo das Spielen zwischen Schein und Wirklichkeit
ebenso deutlich wird, wie im „Paracelsus“ das
Ineinander von Wirklichkeit und Traum. Im
„Schleier der Beatrice“ zeichnet der Dichter den
Heißhunger nach Glück und die Enttäuschung, die
dem lebensdurstigen Filippo schließlich die Waffe
in die Hand drückt, die ihn von aller Erdenqual
befreit. So wird das Weib der Feind, der die
Sehnsucht nach Glück bestraft, der Feind, der
letzten Endes Sieger bleibt. In neuerer Zeit ist
Schnitzler zum historischen Drama zurückgekehlt,
indem er im „Jungen Medardus“ das Wien von
1809 zum Schauplatz leidenschaftlicher Kämpfe
machte. Auch hier ist das Weib der rollende Ball,
den die Männer zu werfen glauben, und der
immer wieder selber trifft. Der Roman „Der
Weg ins Freie“ endlich ist eine Verstehen und
Liebe heischende Geschichte der gegenwärtigen
jüdischen Strömungen und wie alle Bücher
Schnitzlers von dem Pulsschlag starken inneren
Erlebens durchglüht und geadelt.
So ist Arthur Schnitzler weit über jene Erst¬
lingswerke der Liebespsychologie hinausgewach¬
sen, die seine starke Position in der zeitgenossischen
Literatur begründeten, und es liegt eine schwere
Ungerechtigkeit darin, ihn immer nur als den
Dichter des „Süßen Mädels“ abzutun. Der Tod
der Menschen, die er als Arzt hat ringen und
sterben sehen, ist nicht spurlos an ihm vorüber¬
gegangen, und der Gedanke an das Nachher faßt
ihn mit Schauern an, weil weder der Glaube noch
die Wissenschaft hier Antwort geben, die ihn
trösten kann. „Warum reben Sie vom Sterben?“
heißt es im „Einsamen Weg“, und die Antwort
lautet: „Gibt es einen anständigen Menschen,
der in irgendeiner guten Stunde an etwas an¬
deres denkt?“ Wer so vom immer gegenwärtigen
Todesgedanken begleitet wird, für den gibt es
kein lässiges Erfassen der Lebensidee, der hält mit
allem, was er denkt und dichtet, wie Ibsen,
Gerichtstag über sein eigenes Selbst. Der sucht
mit allen Fühlern nach den versteckten Triehet
der Seele, wenn sie im Dunkel tastet, und leidet
wenn sich die arme im Glücke betrügt. .“