box 39/1
1. 5oth Birthday
Gcz u
iner Rren Ceunier, Borlin
hnitt aus:
Mergenausgabe
*
„
—1912
Hier und dork.
Sechs Fünfziger.
Von Awrum Halbert.
Arthur Schnitzler: 15, Mai 1912.
Johannes Schlaf: 22. Juni 1912.
Ludwig Fulda: 15. Juli.
Max Dreyer: 25. September.
Otto Ernst: 7. Oktober.
Gerhart Hauptmann: 15. November.
Man ist erstaunt, verblüfft, irritiert: Die Jugend
der achtziger Jahre wird alt. Wahr und wahrhaftig,
9
sie wird alt und ehrwürdig. Sie feiert Jubiläum.
Das ist immer ein Zeichen von Stabilität. Sie
schaut zurück. Das ist immer ein Symbol von Er¬
mattung.
Die Kämpfer von einst reinigen die Waffen. Das
ist Altvater=Stimmung.
Im Grunde genommen sind es nur zwei Kämpfer.
Ein offener, wilder, loser Draufgänger: Johannes
Schlaf.
Und einer, der zwar im Vordergrunde des Gefechts
stand, dessen Kunst umstritten wurde, der aber selbst
ele
mehr auf dem Aussichtshügel stand und ins Gewimmel
·0:
hineinschaute. Für ihn wurde gekämpft, um ihn. Er
ste selbst blieb in kühler Reserve.
Johannes Schlaf, der redlichste und ehrlichste
Wortführer des Naturalismus, sah als erste und
age
tiefste Aufgabe der Kunst und des Schaffens:
nde
„Etwas Ganzes, Rundes herauszuschaffen aus
iche
einem gesunden, kräftigen Empfinden, aus einer um¬
mee
tan¬
fassenden, sicheren Stimmung heraus gestalten, die
gen,
einen trägt von Beginn bis zu Ende. Die Welt
tär¬
wiederzugeben, wie sie Empfindung und treibendes
#ts
quellendes Leben in einem geworden, ohne zu denteln
sen
und zu urteilen, zu verdammen und zu preisen.
rial¬
Als ob Schlaf Gerhart Hauptmanns Kunstschaffen
nach
charakterisieren wollte, hört sich sein Programm¬
chen
wort an:
„Kein kluges, kaltes Beobachten: mit seinem
Empfinden aufgehen im Leben, es selbst werden.
Farbe sein, Ton, Licht, eigener und fremder Schmerz,
eigene und fremde Lust, jede Leidenschaft, wie sie in
schlichter, natürlicher Kraft sich äußert.“ So ist Gerhart
nd¬
Hauptmanns Kunst geworden:
„Ganz selbst und doch seiner selbst entledigt“, wie
der
Friedrich Nietzsche das Pathos der antimoralischen
Moral bezeichnet — das Pathos, das dem Viertel¬
los
jahrhundert dieser Fünfziger das Gepräge gab.
ern
Hat ein anderer Führer des Naturalismus das
Wort gesprochen: „Subjektivität ist Wahrheit“ (Carl,
Bleibtreu), so hat die Entwickelung der modernen
ute
Literatur das Wort umgemodelt, umgedreht: Wahrheit
ist Subjektivität. Oder auch: Wahrheit ist Wirklichkeit.
m.
Keinen Finger breit von der Wirklichkeit abweichen,
nichts schön färben, nichts heucheln, was die Sonne
nicht sieht — und doch wahr bleiben, doch Kunst
schaffen, das ist es, was uns der Naturalismus lehrte.
Kunst ist nicht ein Idyll, wo gute Kinder mit ihren
r¬
Gefühlen tändeln und schlechte die Gefühlchen mi߬
ds
achten; Kunst nicht ein Spiel hinter verwachsenen
n
Hecken, wo Liebe schmollt und Stolz heuchelt und
Hoheit markiert. — Kunst ist leidenschaftliches Leben.
es
Wie Gerhard Hauptmann sagt: Läuternde Erschütte¬
rung.
Durch Friedrich Nietzsche haben es die Jungen ge¬
lernt, daß Liebe kein träger, verspielter Paradies¬
uf
Zustand ist, kein Paradies, das böse Tanten und harte
Mütter mit dem Schwert in Händen bewachen —
ng
sondern daß Liebe ein Kampf der Geschlechter und des
Geschlechts ist.
Man kann ruhig sagen: Der Writte, der ahnen¬
sie wurden aus¬
stolze Vater, die verbohrte Mutter —
geschaltet. Die zwei Menschen blieben, die miteinander
zu kämpfen, fertig zu werden hatten... so oder so...
lachend oder weinend .. lebend oder tot. Die starke
eit
Andacht des Lebens ist an Stelle der matten, lenden¬
lahmen Sehnsucht getreten.
Gewiß, sie verliebten sich in das Leben. Hoffmanns=#
thal sagt einmal von Peter Altenberg: „Er ist allzu
verliebt in das schöne Leben“ und will damit die
Ueberschätzung des Lebens, das sich in dieser Epoche
breit macht, charakterisien. Aber Hoffmannsthal ist
bereits über den Naturalismus hinausgewachsen.
i
verarbeiten, ihn beleuchten. Die gewohnheitsmäßige
Gedankenlosigkeit schafft Unglück. Das sehen wir am
besten bei unseren Kindern. Wir nehmen sie hin. Wir
erziehen sie sozusagen. Wir wollen ihnen unsere
eigenen bösen Erfahrungen ersparen. Sie sollen die
Dummheiten, die wir machten, an denen wir litten,
Sie sollen da anfangen, wo wir aufgehört
lassen.
haben.
Leben kann aber nicht angelernt werden. Jeder
muß seine Dummheiten machen. Dann erst kann
er seine Klugheiten vollbringen. Man ist nicht Mensch,
man wird es erst. Wie jeder es wird, das ist seine
Kunst. Otto Ernst hat sein Lieblingskind: Asmus
Semper. Gewiß, es ist immer noch viel zu viel
Gemut in dem Jungen. Viel zu viel „Instinkt“. Die
Moral des Kopfes, wie der große Friedrich sie nennt,
fehlt. Aber die kleinen Konflikte und die großen
Heiterkeiten der Kindesseele hat Otto Ernst gefunden
und aufgedeckt. Und was von Max Dreyers
Kunst bleiben wird — ist die Seele der „Siebzehn¬
jährigen“ oder besser die Seelen. Die Seelen mit
Frühlingsfieber im Blut. Die da lachen, wenn sie
weinen müssen. Die da weinen, wenn ihnen große
Freude begegnet. Die Halbkinder, die Liebe zu
Menschen macht. Die Schmetterlinge, die trunken
werden vom vielen Licht
Ludwig Fulda ist einer von den Fünfzigern, der
am wenigsten ins „Programm“ hineinpaßt. Er stand
zuviel im Vordergrund der Gesellschaft. Man möchte
sagen; er hat zuviel Vereine geleitet. Er war immer
da. Er hat oft charaktervoll protestiert. Er hat viel
geschrieben. Er hat viel und sehr schöne Reden ge¬
halten. Eine große Persönlichkeit war er nicht, aber
eine vielseitige und gewinnende. Er hat auch den
„Dummkopf“ geschrieben, etwas, das sich wie die
Tragödie einer Zeit ausnahm. Allzutief gings ihm
nicht. Er hat mit Geist und Geschick alle Fragen auf¬
gefaßt, die in der Lust lagen. Aber er hat es immer
fast vergessen, daß die Luft mitgenommen werden muß
mit dem Problem. „Die Sklavin“ die moderne
Frau hat ihn interessiert. Aber ihre Umgebung, ihre
Existenzbedingungen, ihre gewordene Art, ihre inneren
Keime hat er nicht mit der Wurzel gefaßt.
Diese Zeilen sollen keine Wertung sein. Sonst
müßte man konstatieren, wo die Dichter angefangen
haben und wo sie jetzt stehen. Gerhart Hauptmann
Johannes
schreibt Romane für Tageszeitungen
Schlaf ist religiös —— nein, diese Betrachtung sollte
#nur eine knappe Entwickelung dieser sechs Fünfziger
geben. Möge das sechste Jahrzehnt tiefere und
stärkere Kunst gebären.—
1. 5oth Birthday
Gcz u
iner Rren Ceunier, Borlin
hnitt aus:
Mergenausgabe
*
„
—1912
Hier und dork.
Sechs Fünfziger.
Von Awrum Halbert.
Arthur Schnitzler: 15, Mai 1912.
Johannes Schlaf: 22. Juni 1912.
Ludwig Fulda: 15. Juli.
Max Dreyer: 25. September.
Otto Ernst: 7. Oktober.
Gerhart Hauptmann: 15. November.
Man ist erstaunt, verblüfft, irritiert: Die Jugend
der achtziger Jahre wird alt. Wahr und wahrhaftig,
9
sie wird alt und ehrwürdig. Sie feiert Jubiläum.
Das ist immer ein Zeichen von Stabilität. Sie
schaut zurück. Das ist immer ein Symbol von Er¬
mattung.
Die Kämpfer von einst reinigen die Waffen. Das
ist Altvater=Stimmung.
Im Grunde genommen sind es nur zwei Kämpfer.
Ein offener, wilder, loser Draufgänger: Johannes
Schlaf.
Und einer, der zwar im Vordergrunde des Gefechts
stand, dessen Kunst umstritten wurde, der aber selbst
ele
mehr auf dem Aussichtshügel stand und ins Gewimmel
·0:
hineinschaute. Für ihn wurde gekämpft, um ihn. Er
ste selbst blieb in kühler Reserve.
Johannes Schlaf, der redlichste und ehrlichste
Wortführer des Naturalismus, sah als erste und
age
tiefste Aufgabe der Kunst und des Schaffens:
nde
„Etwas Ganzes, Rundes herauszuschaffen aus
iche
einem gesunden, kräftigen Empfinden, aus einer um¬
mee
tan¬
fassenden, sicheren Stimmung heraus gestalten, die
gen,
einen trägt von Beginn bis zu Ende. Die Welt
tär¬
wiederzugeben, wie sie Empfindung und treibendes
#ts
quellendes Leben in einem geworden, ohne zu denteln
sen
und zu urteilen, zu verdammen und zu preisen.
rial¬
Als ob Schlaf Gerhart Hauptmanns Kunstschaffen
nach
charakterisieren wollte, hört sich sein Programm¬
chen
wort an:
„Kein kluges, kaltes Beobachten: mit seinem
Empfinden aufgehen im Leben, es selbst werden.
Farbe sein, Ton, Licht, eigener und fremder Schmerz,
eigene und fremde Lust, jede Leidenschaft, wie sie in
schlichter, natürlicher Kraft sich äußert.“ So ist Gerhart
nd¬
Hauptmanns Kunst geworden:
„Ganz selbst und doch seiner selbst entledigt“, wie
der
Friedrich Nietzsche das Pathos der antimoralischen
Moral bezeichnet — das Pathos, das dem Viertel¬
los
jahrhundert dieser Fünfziger das Gepräge gab.
ern
Hat ein anderer Führer des Naturalismus das
Wort gesprochen: „Subjektivität ist Wahrheit“ (Carl,
Bleibtreu), so hat die Entwickelung der modernen
ute
Literatur das Wort umgemodelt, umgedreht: Wahrheit
ist Subjektivität. Oder auch: Wahrheit ist Wirklichkeit.
m.
Keinen Finger breit von der Wirklichkeit abweichen,
nichts schön färben, nichts heucheln, was die Sonne
nicht sieht — und doch wahr bleiben, doch Kunst
schaffen, das ist es, was uns der Naturalismus lehrte.
Kunst ist nicht ein Idyll, wo gute Kinder mit ihren
r¬
Gefühlen tändeln und schlechte die Gefühlchen mi߬
ds
achten; Kunst nicht ein Spiel hinter verwachsenen
n
Hecken, wo Liebe schmollt und Stolz heuchelt und
Hoheit markiert. — Kunst ist leidenschaftliches Leben.
es
Wie Gerhard Hauptmann sagt: Läuternde Erschütte¬
rung.
Durch Friedrich Nietzsche haben es die Jungen ge¬
lernt, daß Liebe kein träger, verspielter Paradies¬
uf
Zustand ist, kein Paradies, das böse Tanten und harte
Mütter mit dem Schwert in Händen bewachen —
ng
sondern daß Liebe ein Kampf der Geschlechter und des
Geschlechts ist.
Man kann ruhig sagen: Der Writte, der ahnen¬
sie wurden aus¬
stolze Vater, die verbohrte Mutter —
geschaltet. Die zwei Menschen blieben, die miteinander
zu kämpfen, fertig zu werden hatten... so oder so...
lachend oder weinend .. lebend oder tot. Die starke
eit
Andacht des Lebens ist an Stelle der matten, lenden¬
lahmen Sehnsucht getreten.
Gewiß, sie verliebten sich in das Leben. Hoffmanns=#
thal sagt einmal von Peter Altenberg: „Er ist allzu
verliebt in das schöne Leben“ und will damit die
Ueberschätzung des Lebens, das sich in dieser Epoche
breit macht, charakterisien. Aber Hoffmannsthal ist
bereits über den Naturalismus hinausgewachsen.
i
verarbeiten, ihn beleuchten. Die gewohnheitsmäßige
Gedankenlosigkeit schafft Unglück. Das sehen wir am
besten bei unseren Kindern. Wir nehmen sie hin. Wir
erziehen sie sozusagen. Wir wollen ihnen unsere
eigenen bösen Erfahrungen ersparen. Sie sollen die
Dummheiten, die wir machten, an denen wir litten,
Sie sollen da anfangen, wo wir aufgehört
lassen.
haben.
Leben kann aber nicht angelernt werden. Jeder
muß seine Dummheiten machen. Dann erst kann
er seine Klugheiten vollbringen. Man ist nicht Mensch,
man wird es erst. Wie jeder es wird, das ist seine
Kunst. Otto Ernst hat sein Lieblingskind: Asmus
Semper. Gewiß, es ist immer noch viel zu viel
Gemut in dem Jungen. Viel zu viel „Instinkt“. Die
Moral des Kopfes, wie der große Friedrich sie nennt,
fehlt. Aber die kleinen Konflikte und die großen
Heiterkeiten der Kindesseele hat Otto Ernst gefunden
und aufgedeckt. Und was von Max Dreyers
Kunst bleiben wird — ist die Seele der „Siebzehn¬
jährigen“ oder besser die Seelen. Die Seelen mit
Frühlingsfieber im Blut. Die da lachen, wenn sie
weinen müssen. Die da weinen, wenn ihnen große
Freude begegnet. Die Halbkinder, die Liebe zu
Menschen macht. Die Schmetterlinge, die trunken
werden vom vielen Licht
Ludwig Fulda ist einer von den Fünfzigern, der
am wenigsten ins „Programm“ hineinpaßt. Er stand
zuviel im Vordergrund der Gesellschaft. Man möchte
sagen; er hat zuviel Vereine geleitet. Er war immer
da. Er hat oft charaktervoll protestiert. Er hat viel
geschrieben. Er hat viel und sehr schöne Reden ge¬
halten. Eine große Persönlichkeit war er nicht, aber
eine vielseitige und gewinnende. Er hat auch den
„Dummkopf“ geschrieben, etwas, das sich wie die
Tragödie einer Zeit ausnahm. Allzutief gings ihm
nicht. Er hat mit Geist und Geschick alle Fragen auf¬
gefaßt, die in der Lust lagen. Aber er hat es immer
fast vergessen, daß die Luft mitgenommen werden muß
mit dem Problem. „Die Sklavin“ die moderne
Frau hat ihn interessiert. Aber ihre Umgebung, ihre
Existenzbedingungen, ihre gewordene Art, ihre inneren
Keime hat er nicht mit der Wurzel gefaßt.
Diese Zeilen sollen keine Wertung sein. Sonst
müßte man konstatieren, wo die Dichter angefangen
haben und wo sie jetzt stehen. Gerhart Hauptmann
Johannes
schreibt Romane für Tageszeitungen
Schlaf ist religiös —— nein, diese Betrachtung sollte
#nur eine knappe Entwickelung dieser sechs Fünfziger
geben. Möge das sechste Jahrzehnt tiefere und
stärkere Kunst gebären.—