VII, Verschiedenes 2, 50ster Geburtstag, Seite 201

Zeitung:—
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On1 —
Detum: —
Artur Schnitzler.
(Zum 50. Geburtstag.)
Die Personen sind: ein eleganter junger Mann, seine Geliebte,
sein Freund. Der Freund hat die Geliebte hypnotisiert, und sie ist nun
in einem Schlaf, der ihren freien Willen bindet, aber auch ihre kleinen
Verlogenheiten, ihre kleinen Tücken, all die Abwehr, mit der ihr
waches Wesen sich sonst gegen Geständnisse sträubt. Wenn man sie
jetzt um ihre Geheimnisse fragt, wird sie die volle Wahrheit sagen.
Sie wird ihre ganze Vergangenheit gehorsam enthüllen; sie wird auch
bekennen, ob sie treu gewesen ist oder nicht. Der elegante junge Mann
braucht nur zu fragen, und alle seine Zweifel, an denen er beständig
leiden muß, sind mit einem Male gestillt. Aber der junge Mann zaudert.
Es scheint ihm nicht ganz redlich, die Wahrheit zu stehlen. Außerdem
fürchtet er die Antwort. Seine Schmerzen erscheinen ihm jetzt köstlich,
weun er sie dem Schmerz vergleicht, den vielleicht die Gewißheit bringen
mag. Er entschließt sich, das schlafende Mädchen da fernerhin so zu
lieben, wie er sie bis jetzt geliebt hat; mit allen Zweifeln und mit
allem Hoffen, mit jeglichem Verdacht und mit all dem Zutrauen, mit
all der Karesse und mit all der Feindseligkeit, die nun einmal zur
Liebe gehören. Und er ruft die Schlafende an: Wach' auf!
In der Reihe jener galanten Dialoge, in welcher der geistreiche
junge Herr Anatol seine Liebesabenteuer an uns vorüberführt, heißt
diese kleine Szene: Die Frage an das Schicksal. Mit dem Anatol
hat Artur Schnitzler begonnen. Ein Buch voll leichter Nachdenklichkeit,
voll frühlinghafter Schwermut, ganz durchornamentiert von einer
spielerischen Lust am Wort; elastisch und biegsam in Jugendkraft und
in dieser gezügelten kultivierten Kraft von jener Anmut, die ein Zeichen
der echten Rasse ist. Ein mondänes Buch, das von allerlei eleganten
Parfüms duftet, das einen Glanz von großstädtischem Luxus verbreitet.
Ein Buch, daran die Spuren eines regen geistigen Verkehrs mit Frank¬
reich haften. Manche Worte sind französisch gefärbt, der Name des
Titelhelden ist aus Frankreich geholt, und zeigt seine fremde Form
wie eine trotische Blume, die in einem wienerischen Garten blüht:
Anatol.
Irgendwie sind die jungen Männer, die Artur Schnitzler in seinen
späteren Werken gezeichnet hat, dem Anatol immer noch verwandt.
Und die jungen Mädchen, die durch Schnitzlers reife Dramen wandeln,
sind den kleinen Vorstadtmädchen Anatols immer noch schwesterig ver¬
bunden. Er selbst aber würde solch eine weltmännisch=skeptische Szene,
darin lächelnd von der Weibertreue und von Männerzweifeln die Rede
ist, wohl kaum mehr „die Frage an das Schicksal“ nennen. Der
Begriff des Schicksals hat sich denn bald genug erweitert und vertieft.
Er hat eine besondere Beziehung zum Schicksal gefunden. Er hat un¬
ablässig und aus seiner Fülle grüblerischer Gedanken Fragen an das
Schicksal gestellt, bedeutungsvoller, inhaltsreicher als die Frage, die
der subtile Anatol nicht zu stellen wagt. Auf diesem energisch zurück¬
gelegten Weg vom Weltlichen zum Ewigen, vom geistreichen Spiel zu
tiefaufatmenden Gedanken, vom jugendlich persönlichen Erlebnis zum
allgemeinen Schicksal liegt Artur Schnitzlers Entwicklung.
Er wurzelt freilich im Gesellschaftlichen. Seine Menschen sind elegante
junge Männer, zumeist elegante junge Mädchen und Frauen. Seine
Atmosphäre ist die Großstadt, in der so viele winzige und bedeutende,
so viel wichtige und so viel nichtige Existenzen chaotisch, in einander
verwühlt, sh abrollen; wo niedrige und hohe Existenzen sich in
komischen und tragischen Zufälligkeiten begegnen, wo die Grenzlinien
zwischen den einzelnen Klassen und Schichten manchmal verschwimmen.
Die Menschen Schnitzlers, aus den oberen Etagen der Gesellschaft
geholt, sind in ihren Trieben, in der Urkraft der Instinkte irgendwie
gebändigt. Durch die Reserve, die Bildung, Erkenntnis und
Kultiviertheit mit sich bringt. Durch den linden Zwang, der allein schon
in den guten Manieren liegt. Sie sind in ihrem Geschmack verwöhnt,
in ihrem Empfinden auf differenzierte Nüancen gestellt, in ihrem Denken,
in ihren Nerven und in ihrer Seele kompliziert. Es ist bei alledem
nicht schwierig, auf der Klaviatur dieser Menschen zu spielen. Wer sein
Lebtag in diesem ungeheuren Orchester verbracht hat, umbrauft von
der tosenden Symphonie, die da endlos aufgeführt wird, erwirbt zuletzt
ein scharfes Ohr für die verwirrend vielfältige Instrumentation, und
es fällt ihm leicht, dies Orchester einmal zu dirigieren. Aber verdammt
schwer ist es, diesem Klang die eigene Farbe einzumengen, diesen
Rhythmus nach seinem eigenen Pulsschlag zu formen, das Orchester
so aufrauschen zu lassen, daß man den Dirigenten erkennt. Schwer ist
es, diese Menschen, die bei all ihrer Kompliziertheit eine solche Gleich¬
förmigkeit haben, aus der Banalität zu reißen und ihnen den Stempel
der eigenen Wesenheit einzuprägen.
Das hat Artur Schnitzler vermocht. Sein Anatol ist mit dem
ersten Wort, das er spricht, Schnitzler. Arglos und spöttisch zugleich;
verwöhnt und nach Bitternissen schmachtend; genußreich dem Dasem
zugewendet und im Genuß vor den dunklen Möglichkeiten des
Schicksals erschauernd. Der elegante junge Mann in der „Liebelei“ ist
wieder Anatol oder doch Anatols Bruder. Seine Christine nur eines
der Vorstadtmädchen aus den Anatol=Szenen. Aber ihr holdes, kleines
Alltagserlebnis ist hier schon unter die Wucht eines tragischen
Schicksals gestellt. Und es ist ein Schicksal, wie Schnitzler es uns
sehen lehrt. Eines, das die Menschen einsam macht, das ihnen gerade
in jenen Augenblicken, in denen sie sich reich, hingegeben und ver¬
Ein
bunden fühlen, ihre tiefe Einsamkeit zu kosten gibt.
Schicksal, das sie just dann die Zeche für genossene Mahl¬
zeiten zahlen läßt, wenn sie sich zu neuen Festen anschicken
wollen. Schnitzlers Farbe ist an allen diesen Menschen. Der
spröd stolze Herr v. Satir, der wählerisch und sehnsüchtig zugleich,
die Gefährtin für die verschlungenen Pfade des Lebens sucht, bis er
plötzlich verlassen vor dem letzten, einsamen Weg ins Dunkle steht.
Der alternde, unablässig zur Jugend drängende, von geheimer Furcht
der Vergänglichkeit gerüttelte Hofreiter, der sterbende Dichter Rade¬
macher, der sich mit einer letzten Wahrheit an seinem Wiener eiteln
Freund rächen möchte, aber im Angesicht des Todes auf jegliche Rache
als etwas Unwichtiges, Geringes, Bedeutungsloses verzichtet; alle sind
von Schnitzlers besonderer Art erfüllt. Wir haben sie vor ihm nicht
gekannt, haben diese Menschen vor ihm nicht gesehen, oder anders
gesehen. In dieser Beleuchtung aber, in diese Konflikte gestellt, von
dieser weichen, stillen Atmosphäre umschimmert, sind sie Schnitzlers
Eigentum, seine Geschöpfe, seine Welt.
Seine Welt enthält merkwürdige Verknüpfungen. Schon in der
„Liebelei“ zeigt sich diese merkwürdige Art, weit auseinander lebende
Existenzen durch unsichtbare Fäden zu verbinden. Der junge Mann,
der das kleine Vorstadtmädchen liebt, stirbt für eine mondaine Frau,
die er gar nicht mehr lieb hat. Christine sieht den Mann, dem sie ihre
erste Neigung geschenkt hat, für eine andere in den Tod gehen. An
die Rache eines Eifersüchtigen und an die Delirien eines sterbenden
Greises sind im „Ruf des Lebens“ alle Schicksale des jungen
Menschen des Dramas gebunden. Der Professor im „Einsamen.
Weg“ sieht seine Frau sterben, seine Tochter in Seltstmord
enden, sein ganzes Dasein stürzt zusammen, und da erst, am Ende
aller Dinge, hört er sich von seinem Sohn „Vater“ angerufen,
mit einem Klang der Echtheit, mit einem Akzent der Seele, als habe
er das Wort „Vater“ nie vernommen. Hört es von seinem Sohn, der
gar nicht sein Sohn ist. Der Komödiant in der Schenke zum „Grünen
Kakadu“ tragiert vor dem noblen Publikum seine Eifersucht, wird vom
Spiel zur Wirklichkeit blutig hingerissen und ermordet den Prinzen
von Chartres, der ihn betrogen hat. Aber im selben Augenblick bricht
auch von der Straße her die Brandung der Revolution in
die Schenke. Dort draußen ist soeben die Bastille erstürmt
vereinzelter
worden. Jener Komödiant hat also nicht
Raserei den Degen geführt. Die Auflehnung, die unter
den Bedrückten umherging, hat in ihm ihre Hand erhoben, wie draußen
in den vielen, vielen anderen. Und der Komödiant hat zugestoßen,
nicht so sehr, weil er den Zorn der Eifersucht empfand, sondern weil
die Stunde erfüllt war. Dieser Dichter hat mit jugendlich=erotischen
Einfachheiten begonnen und enthüllt Schicksalswege, bei deren Ver¬
schlungenheit man sich der tiefsinnigen Traumbilder in Hebbels Tage¬
büchern erinnert.
Die Jugend dieses Dichters ist von den Franzosen beeinflußt
gewesen, und er ist der feinste Gestalter des Wienerischen Wesens ge¬
worden. Er hat den Duft und die Farbe, den Zauber und die
musikalische Anmut dieser Stadt in Kunstwerken wiedergegeben, wie
kein anderer noch vor ihm. Er ist ein Wiener, wie Alphonse Daudet
ein Pariser war. An Daudets zarte, unauslöschlich einprägsame
Farbigkeit erinnert er; an seine lyrische Weichheit, an die Grazie von
Daudets kultiviertem Temperament. Und wenn wir ihn heute in
seiner kraftvollen Meisterschaft grüßen, denken wir daran, daß die
junge, nachstrebende Generation, die sich jetzt in vielen, vielversprechenden
Büchern zu ihrem Heimatboden bekennt, ihre stärkste Anregung, ihre
frischeste Ermutigung von Artur Schnitzler empfangen hat.
Felix. Salten.
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