VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 3

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Soth and 55th Birthday box 39/2
Aber durch das Spiel erfährt er von den entsetzten Kollegen, daß die
Untreue wahr ist, und als der Herzog eintritt, macht er den ge¬
gespielten Mord (den jene schon glaubten!) auch wahr. Der Herzog fällt —
der Herzog, Henris Widerspiel, der feinste der Genießer, der alle und alles
versteht, der mit vierundzwanzig Jahren Ubersättigte, der die kleinen Theater¬
dirnen mit seinem Degen spielen läßt — ihm wandelt sich das so geliebte
Spiel jäh in tötliche Wirklichkeit.
Der Herzog fällt und die Bastille fällt. Und nun erhebt sich der
königliche Kommissär, der so lange das Spiel prüfend ansah — und verbietet
die Vorstellung! Und noch das ist nicht das letzte Wort dieser grausigen
Groteske — das hat die Marquise, die höchst elegante Zuschauerin, die durch
all dies „in Stimmung kommt“ und ihrem Liebhaber eine angeregte
schöne Stunde verspricht — „man sieht nicht alle Tage einen wirklichen
Herzog wirklich ermorden“! — Das ist das letzte Wort dieser ganz
ästhetischen, ganz unethischen Menschheit, sie bleibt sich treu in spiele¬
rischer Genußsucht — treu bis aufs Schaffot. „Sie werden uns nicht entgehen“.
dies Wort des Freiheitsredners beschließt den Akt.
Es ist eines der seltenen Stücke künstlerischer Arbeit, in denen jeder
Zug ein Meisterzug ist, wo keine Lücken klaffen, keine Fugen zu spüren
sind. Alles ist zu völligster Geschlossenheit nach allen Seiten versponnen.
Der kleine Junker vom Lande, an dessen Unerfahrenheit das ganze Chaos
grell aufleuchtet, zeigt doch zugleich den adeligen Rest seiner todgeweihten
Kaste, wenn er am Schlusse mit ererbtem Mut, den Degen in der Hand,
den Seinen Abzug erzwingt. Der Tantenmörder Grain, der bei den Schau¬
spielerreden wider die Richter den ungespieltesten Beifall ausjauchzt, bringt
einen Hauch der Straßenwelt draußen hinein. Auch stiehlt er einem Marquis
wirklich den Beutel, während dieser seinem jungen Freunde vom Lande
beruhigend zeigt, daß das scheinbar gestohlene Geld der Verbrecherspiele
aus Spielmarken besteht! Der echte Donner der Revolution draußen gilt den
Gästen als Teil des Arrangements, der Wirt-Regisseur beginnt das zu echte
Spiel seines Henri für Wirklichkeit zu halten, aus seinem zu echten Ent¬
setzen liest der Spieler die Wahrheit seines Spiels. Und so brandet schließlich
Wirkliches und Gespieltes zu einem Chaos zusammen. Ein Weltuntergang.
Schnitzler kommt in seiner Technik mehr von der gallischen als von
der germani# hen Linie des Dramas. Seine Gestalten setzen nicht Ideen in
die Welt, seine Idee, seine Tendenz setzt Gestalten an. Wenn auch sein
Leitmotiv so unscharf, lyrisch weich, stimmungshaft ist, wie kaum je bei
einem Franzosen — es bleibt der Weg gallischer Konstruktion; und um des
weicheren Kerns willen gewinnen seine Gebilde selten französische Schärfe
und Sicherheit und Schlagkraft — bleiben in sehr liebenswürdiger Schwäche.
Hier aber hat der Dichter einmal mit einer Gebärde wildester Verzweiflung
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