VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 23


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5oth and 55th Birthdan
Darstellung des Menschlichen hatte; Schnitzler ist ihm darin, künstlerisch
und geistig weit überlegen, gefolgt. Ohne Zorn, ohne kriegerisches Tem¬
perament, aber mit einer Tapferkeit, die man erst recht merkt, wenn man
vom rein Künstlerischen, von der leichten Anmut und dem erlesenen Geist
abstrahiert, der in all' seinen Dichtungen lebendig ist, geht er, den man so
oft und so falsch einen „Schriftsteller der Bourgeoisie“ genannt hat, auf
alle Verlogenheiten und auf alle Niedertracht und Engherzigkeit der bürger¬
lichen Moral los. Hätten die sanfte Tragik, die leidende Heiterkeit, der
Humor feiner Verachtung, die all seinen Werken höchsten Reiz geben, den
Rohstoff und die problematische Grundlage nicht so durchaus zum Kunst¬
werk aufgelöst, so müßte er einer der konfisziertesten Dichter sein. So aber
ist es lustig, daß gerade seine Geistigkeit und Grazie, die stille, ein wenig
spöttische und ein wenig sentimentale Ruhe seines dichterischen Wesens
die eigentlichen Elemente seiner Dichtung derart maskiert zu haben scheinen,
daß man ihm den Vorwurf des „literarischen Dandy“, ja des „Aestheten“
(was bekanntlich ein schwer verdächtigendes Schimpfwort ist) nicht er¬
sparen zu dürfen glaubte. Aber man muß nicht gleich ein Dandy sein, wenn
man kein Raufer und kein Lackel ist. In Wahrheit steckt in Schnitzlers
Stücken derselbe Mut gegen alle gedankenlos und herzlos hergebrachte
Klassen- und Gesellschaftsmoral, gegen alle Leib- und Geisteigenschaft und
gegen alle verknöcherte Unfreiheit, wie in den aufrührerischesten Reden und
Schriften agitatorischer Umstürzler; nur daß die Gewähltheit seiner dichte¬
rischen Formen, der gepflegte Ton seines Vortrages, der funkelnde Schliff
seiner nur scheinbar achtlos hingeworfenen Gedanken, deren Tiefe sich oft
gar nicht gleich erschließt, all die Dinge, die unsere persönlichste Ange¬
legenheit sind, zum geistigen Genuß erheben. Das macht sie naturgemäß suspect;
die Wahrheit darf offenbar nicht anders als reizlos, grob, scheltend erscheinen.
Wer näher zusieht, wird im „Vermächtnis“, im „einsamen Weg“, ja sogar
in dem künstlerisch mißlungenen „Freiwild“ mehr Kühnheit und innere
Freiheit finden, wie in den meisten Werken der Zeitgenossen, und der
„Reigen“ ist in seiner Sexualironie, ja in seinem unbarmherzigen Sexual¬
pessimismus eines der frechsten, eines der entzückendsten und eines der
illusionslosesten, deprimierendsten und dabei mutigsten Bücher, die wir
überhaupt haben. Wenn es eine Formel für Schnitzler gäbe, wäre es die:
ein Dichter für die „Freie Volksbühne“, der nur im Burgtheater aufgeführt
werden kann.
*
Die Frage nach Schnitzlers Hauptwerk bringt Verlegenheit. Es ist oft
geschehen, daß Fremde, denen man unseren Dichter pries, wissen wollten,
welches seiner Bücher sie nun lesen solten, um ihn am vollkommensten
kennen zu lernen; in welchem seiner Dramen oder Romane sein Wesen
ganz und restlos ausgedrückt sei. Worauf nur zu antworten ist: in allen
zusammen. Die Ahnlichkeiten, die Schnitzlers Werke verbinden, sind Ahn¬
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