VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 30

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Vorbilder. Von seiner Art, die Liebe zu sehen, ist das Liebesgefühl dieser
Generation beeinflußt worden; von seiner Art, den Tod zu denken, ward
ihr Vergänglichkeitsgedanke angefärbt, von seiner Inbrunst, das Leben zu
verehren, ihre Daseinslust erhöht und befeuert.
Seine weltliche Anmut und seine äußerste Kultiviertheit haben erzieherische
Wirkung geübt, und der exklusiv empfindliche Geschmack seiner Kunstmittel
hat viele andere, ähnliche Exklusivitäten und gute Empfindlichkeiten er¬
mutigt. Seine Technik ist in ihrer frühesten Jugend von den Franzosen
erzogen und angeregt worden. Daher rührt der leise Duft nach allerlei
mondänen Parfüms in seinen ersten Büchern; daher der Name Anatol,
der wie ein Echo, aus Frankreich herübergeweht, in seinen ersten Dialogen
aufklingt, daher auch die elegante, höflich grüßende Verbeugung, mit der
sich manches seiner Worte zur Pointe schmiegt und rundet. Dann aber ist
ihm aus der rastlos arbeitsamen und tiefen Echtheit seines Wesens die eigene
Technik erwachsen, dieses wundervolle Vermögen, in einfachen Sätzen Un¬
sagbares mitschwingen zu lassen. Zwischentöne der Seele, Unterstimmen
des Bewußtseins frei zu machen, psychologische Konflikte von einer Zartheit,
die sich zuvor weder anrühren noch gestalten ließ, anzurühren und zu ge¬
stalten. Diese merkwürdig weiche, nachgiebige, scheinbar sorglose Technik,
in der dennoch so viel wache Aufmerksamkeit, so viel Selbsterziehung,
Straffheit und Frische lebt. Mit dieser nachspürenden, ausgewogenen,
nervenzarten Technik ist er auf die leidenschaftliche Suche nach den Zu¬
sammenhängen gegangen. Sein kühnstes Experiment, die Zusammenhänge
zu enträtseln: „Der Ruf des Lebens“. Sein interessantester Versuch: „Das
weite Land“ und „Der junge Medardus“. Sein übermütigstes und freiestes
Ergreifen der Zusammenhänge: „Reigen“. Mit dieser anmutig federnden,
in ihrem Reichtum schwelgerischen Technik hat er die Farbigkeit des modernen
Lebens, den Prunk und die Schönheit einer vornehmen und weiten Welt
herausgebracht. Man hat oft, und in einer nur zu nahe liegenden Ideen¬
verbindung gesagt, aus Schnitzlers Werken sei der Jubel und die Schwer¬
mut Wiener Walzer zu hören. Vielleicht ist es ebenso wahr, daß seine
Instrumentation gelegentlich an den blendenden Geigenglanz Puccinis er¬
innert, darin das verführerische, sinnliche Strahlen und die prächtig ver¬
wirrende Erhabenheit der Großstadt manchmal aufleuchten.
Isuf einsamen Spaziergängen durch die elegante Belebtheit der Stadt,
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1 durch die heimliche Traurigkeit stiller Gassen der Vorstadt, auf ein¬
samen Spaziergängen im herbsüßen Frühling des Wiener Waldes, wird
es mir in diesen Tagen mehr und mehr bewußt, wie stark sich Arthur
Schnitzlers Wesen dieser Landschaft, dieser Stadt hier eingeprägt hat, wie
viel er von ihr empfing, und sie von ihm. Das Frühlinghafte, das Maien¬
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