VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 70

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Die Gegenwart.
Nr. 20
Bürgertums, des großstädtischen vor allem,
Der vornehme Einzelne, der in dieser Zeit
die an Schnitzler einen lebendigen Anteil
nicht mehr für sich bestehen kann, und doch noch
nehmen. Und damit ist schon viel von seinem
nicht gelernt hat, dienendes Glied zu sein, der
Wesen ausgesagt und sein dichterischer Rang
junge Herr mit den Genießermanieren des
begrenzt, nach oben und nach unten.
Grandseigneur und den Gewissensskrupeln der
neuen Zeit, die etwas von der Pflicht und
Denn Arthur Schnitzler ist ein Sohn des
Würde der Arbeit, und damit vom Menschen¬
modernen Großstadtbürgertums. Zur Proble¬
recht aller verkündet hat, dies sind Schnitzlers
matik des allzu aufgeklärten Gegenwarts¬
wesentlichste, liebste Gestalten. Das Zittern
menschen, der unsicher zwischen alten und neuen
dieser Ungewißheit, die Melancholie dieses Da¬
Göttern steht, brachte dieser Wiener Arzt (das
hingleitens, sie klingt in der „Liebelei“, wo
war Arthur Schnitzler von Haus aus) noch die
dem jungen Herrn und dem süßen Mädel aus
dreifach besondere Belastung des Großstädters,
lässigem Getändel tödlicher Ernst erwächst. Und
des Juden und des Wieners. Der Wiener
sie klingt fort bis zu jenem Herrn von Sala,
aber ist der mächtigste unter ihnen. Was den
der mit so viel Haltung, so viel Geist und so
Kampf des modernen Juden ausmacht der
viel Grazie den „Einsamen Weg“ hinabschreilet.
aus seiner theologischen Ghettokultur hinaus¬
„Und wenn uns ein Zug von Bachanten be¬
geworfen, um den Zugang in die innersten Ge¬
gleitet, den Weg hinab gehen wir allein...
mächer europäischen Geistes= und Seelenlebens
wir, die selbst niemandem angehört haben.“ Die
ringt, das hat Schnitzler in seinem Roman
selbst niemandem angehört haben... die inner¬
„Der Weg ins Freie“ sehr gründlich dis¬
lich in keiner Gemeinschaft waren, keiner Men¬
kutiert. (So gründlich, daß darüber die künst¬
scheneinung angehörten, an keiner sozialen
lerische Form des Buches in Stücke gegangen
Arbeit teilhatten, die den Menschen eine über¬
ist.) Was den Großstädter bedroht, der von
egoistische Befriedigung gewähren kann, die auch
der Natur losgerissen, aus Steinen Brot
Gott nicht angehörten, und nur voll Gier und
machen soll, und in der toten, fremden Mannig¬
Argwohn um das eigene Ich kreisten — die
faltigkeit, die in umkreist, sich einsam wie in
einer Wüste befindet, das ist das unterirdische
finden sich furchtbar allein, hoffnungslos ver¬
loren, wenn die betäubende Kraft des sinn¬
Motiv vieler seiner Themen. Aber daß das
lichen Genusses abnimmt. Es sind Genu߬
Leid des Juden nicht in wilden Propheten¬
menschen, die Schnitzler darstellt, nicht Arbeits¬
schreien altbiblischen Temperaments hervor¬
menschen, in irgendeinem Sinne, dessen das
springt, daß in den Worten dieses Großstädters
nicht der Rhythmus der großen sozialen Kämpfe
große Wort „Arbeit“ fähig ist. Die aber sind
in der neuen Zeit, die das rein repräsentative
donnert, das hat Wien gemacht. Wien hat
aristokratische Ideal nicht mehr anerkennt, höchst
die eigentliche Farbe seiner Dichtungen be¬
problematisch geworden; sie müssen an ihrem
stimmt, diesen leisen, gedämpften, genußsüchtig
Recht zweifeln, ja, an ihrem Ernst, an ihrer
zögernden, melancholisch spielerischen Grundton.
Wirklichkeit. Sie haben keinen festen Punkt
Denn Wien ist die deutsche Stadt an der
Grenze der östlichen Passivität und der süd¬
draußen, an dem sie ihre Existenz messen
können, — sie spielen ja nur — und vielleicht
lichen Sinnlichkeit. In Wien hat sich eine alt¬
ist alles nur Spiel? Diese Selbstauflösung des
idyllische Genußsucht und Spielfreude am läng¬
Menschen, diese Erschütterung und Vernich¬
sten und hartnäckigsten gegen den furchtbaren
tung der Grenzen von Ernst und Spiel, Ko¬
Ernst der neuen Zeit gewehrt, und der Unter¬
mödie und Wirklichkeit ist notwendige Kon¬
gang patrizischer Eleganz und kleinbürgerlichen
sequenz für den niedergehenden Aldelstypus,
Behagens in den Massen der modernen De¬
den Schnitzler darstellt. Darum ist es sein
mokratie, der Arbeit, der Technik, er ist hier
Lieblingsthema, die Schranken zwischen Ver¬
langsamer, empfindsamer, widerwilliger ge¬
stellung und Wahrheit, bewußter Komödie und
schehen als irgendwo sonst. Und von den Men¬
unwillkürlichstem Ernst zu versenken und spiele¬
schen dieses Wien dichtet nun Schnitzler.