2. 50th and 55th Birthday box 39/2
Bereitwilligkeit, den eigenen Schrullen
heit. Man könnte es ihm nachrechnen,
und Unsicherheiten und Fraglichkeiten
daß er immer wieder dieselben aus¬
nachzuhängen, sich in ein kleines Er¬
gesuchten, oft geradezu arrangierten
lebnis mit allem Zweifel und Feinsinn
Probleme und Kombinationen dreht
einzubohren, bei leisen Skrupeln zu
und wendet. Aber es liegt darin eine
verweilen und Tat und Fülle zu ver¬
rührende Selbsttreue, ein echtes Sich¬
säumen. Man weiß heute genau, daß
versenken, das seinen Lohn findet.
dieser so plausibel beginnende, amüsant
Ein Buch wie das soeben bei
nachdenkliche Weg tiefer führen mußte
S. Fischer erschienene „Masken
als mancher andere robustere Willen,
und Wunder“ fügt dem Schnitzler¬
der damals mit deutlicherer Prätension
schen Terrain keine neue Grenze zu.
Bedeutung heischte. Schnitzler ist heute
Aber Novellen wie „Der Mörder“
von den vielen, vielen Prätendenten
„Das Tagebuch der Redegonda“, „Die
der Neunzigerjahre als einer der
Hirtenflöte“ sind so sehr Reife und
wenigen Gekrönten übrig geblieben, er
persönliche Meisterschaft, geben die
hat seine stille Art still gepflegt, und
Form der Schnitzlerschen Novelle so
ohne schwer geworden zu sein, wiegt
gereinigt, bedeuten ein immer wesent¬
er heute schwer. Die plaudernden Dia¬
licheres Sichablösen und Erlösen, daß
loge des Anatol berührten bereits alle
sie, vom Dichter selbst bereitet, die
jene Fragen, die sich später als wirk¬
schönste Jubiläumsfeier bedeuten, die
lich tragische Fragen erwiesen haben.
möglich war. Verthold Viertel.
Man wird ja bei Schnitzler nie den
Zweifel los. Das Tändelnde und das
gekünstelt Problematische sind seine
Gefahren, denen er nie ganz entrinnt.
Aber wie er Lebensillusion und Todes¬
wahrheit, Todesillusion und Lebens¬
wahrheit, wie er Genuß und Gedank¬
lichkeit, Lüge und Selbstbesinnung,
Liebe und Egoismus nachtastend, nach¬
spürend, feine Fäden wie überzarte
Nerven knüpfend, künstlerisch verflicht
— da wird die strichelnde und streichelnde
Manier, der behutsame Tastsinn
unerbittlich. Und Schnitzler hat sich
aus der Misere eines überpsycho¬
logischen, willensunzulänglichen Zeit¬
typus dichterisch beseelte Geschöpfe ge¬
holt, er hat an dem Hinsterbenden, end¬
gültig Verdorbenen unserer Kultur seine
sanfte Unbarmherzigkeit, seine liebens¬
würdige Verzweiflung geübt. So ge¬
wann er der Novelle und dem Drama
neue sensiblere
Formen. Sein
Suchen und Fragen ward in seinen
schönsten Werken reif, ward im „Ein¬
samen Weg“ beinahe Erhabenheit und
in seinem Judenroman „Der Weg ins
Freie“ siebernder Nerv und beinahe
Schrei. Er steht in diesen Dichtungen
knapp vor der letzten, erlösenden Un¬
mittelbarkeit, die überzeugt. Und immer
gelingt ihm der unnachahmliche, ein¬
dringliche Reiz, der sein Dichtertum
ausmacht, immer findet er zur Schön¬
Verantwortlich für die Redaktion: Stefan Großm¬
96
Bereitwilligkeit, den eigenen Schrullen
heit. Man könnte es ihm nachrechnen,
und Unsicherheiten und Fraglichkeiten
daß er immer wieder dieselben aus¬
nachzuhängen, sich in ein kleines Er¬
gesuchten, oft geradezu arrangierten
lebnis mit allem Zweifel und Feinsinn
Probleme und Kombinationen dreht
einzubohren, bei leisen Skrupeln zu
und wendet. Aber es liegt darin eine
verweilen und Tat und Fülle zu ver¬
rührende Selbsttreue, ein echtes Sich¬
säumen. Man weiß heute genau, daß
versenken, das seinen Lohn findet.
dieser so plausibel beginnende, amüsant
Ein Buch wie das soeben bei
nachdenkliche Weg tiefer führen mußte
S. Fischer erschienene „Masken
als mancher andere robustere Willen,
und Wunder“ fügt dem Schnitzler¬
der damals mit deutlicherer Prätension
schen Terrain keine neue Grenze zu.
Bedeutung heischte. Schnitzler ist heute
Aber Novellen wie „Der Mörder“
von den vielen, vielen Prätendenten
„Das Tagebuch der Redegonda“, „Die
der Neunzigerjahre als einer der
Hirtenflöte“ sind so sehr Reife und
wenigen Gekrönten übrig geblieben, er
persönliche Meisterschaft, geben die
hat seine stille Art still gepflegt, und
Form der Schnitzlerschen Novelle so
ohne schwer geworden zu sein, wiegt
gereinigt, bedeuten ein immer wesent¬
er heute schwer. Die plaudernden Dia¬
licheres Sichablösen und Erlösen, daß
loge des Anatol berührten bereits alle
sie, vom Dichter selbst bereitet, die
jene Fragen, die sich später als wirk¬
schönste Jubiläumsfeier bedeuten, die
lich tragische Fragen erwiesen haben.
möglich war. Verthold Viertel.
Man wird ja bei Schnitzler nie den
Zweifel los. Das Tändelnde und das
gekünstelt Problematische sind seine
Gefahren, denen er nie ganz entrinnt.
Aber wie er Lebensillusion und Todes¬
wahrheit, Todesillusion und Lebens¬
wahrheit, wie er Genuß und Gedank¬
lichkeit, Lüge und Selbstbesinnung,
Liebe und Egoismus nachtastend, nach¬
spürend, feine Fäden wie überzarte
Nerven knüpfend, künstlerisch verflicht
— da wird die strichelnde und streichelnde
Manier, der behutsame Tastsinn
unerbittlich. Und Schnitzler hat sich
aus der Misere eines überpsycho¬
logischen, willensunzulänglichen Zeit¬
typus dichterisch beseelte Geschöpfe ge¬
holt, er hat an dem Hinsterbenden, end¬
gültig Verdorbenen unserer Kultur seine
sanfte Unbarmherzigkeit, seine liebens¬
würdige Verzweiflung geübt. So ge¬
wann er der Novelle und dem Drama
neue sensiblere
Formen. Sein
Suchen und Fragen ward in seinen
schönsten Werken reif, ward im „Ein¬
samen Weg“ beinahe Erhabenheit und
in seinem Judenroman „Der Weg ins
Freie“ siebernder Nerv und beinahe
Schrei. Er steht in diesen Dichtungen
knapp vor der letzten, erlösenden Un¬
mittelbarkeit, die überzeugt. Und immer
gelingt ihm der unnachahmliche, ein¬
dringliche Reiz, der sein Dichtertum
ausmacht, immer findet er zur Schön¬
Verantwortlich für die Redaktion: Stefan Großm¬
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