VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 89

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—and Birthdav
Bereitwilligkeit, den eigenen Schrullen
und Unsicherheiten und Fraglichkeiten
nachzuhängen, sich in ein kleines Er¬
lebnis mit allem Zweifel und Feinsinn
einzubohren, bei leisen Skrupeln zu
verweilen und Tat und Fülle zu ver¬
säumen. Man weiß heute genau, daß
dieser so plausibel beginnende, amüsant
nachdenkliche Weg tiefer führen mußte
als mancher andere robustere Willen,
der damals mit deutlicherer Prätension
Bedeutung heischte. Schnitzler ist heute
von den vielen, vielen Prätendenten
der Neunzigerjahre als einer der
wenigen Gekrönten übrig geblieben, er
hat seine stille Art still gepflegt, und
ohne schwer geworden zu sein, wiegt
er heute schwer. Die plaudernden Dia¬
loge des Anatol berührten bereits alle
jene Fragen, die sich später als wirk¬
lich tragische Fragen erwiesen haben.
Man wird ja bei Schnitzler nie den
Zweifel los. Das Tändelnde und das
gekünstelt Problematische sind seine
Gefahren, denen er nie ganz entrinnt.
Aber wie er Lebensillusion und Todes¬
wahrheit, Todesillusion und Lebens¬
wahrheit, wie er Genuß und Gedank¬
lichkeit, Lüge und Selbstbesinnung,
Liebe und Egoismus nachtastend, nach¬
spürend, feine Fäden wie überzarte
Nerven knüpfend, künstlerisch verflicht
— da wird die strichelnde und streichelnde
Manier, der behutsame Tastsinn
unerbittlich. Und Schnitzler hat sich
aus der Misere eines überpsycho¬
logischen, willensunzulänglichen Zeit¬
typus dichterisch beseelte Geschöpfe ge¬
holt, er hat an dem Hinsterbenden, end¬
gültig Verdorbenen unserer Kultur seine
sanfte Unbarmherzigkeit, seine liebens¬
würdige Verzweiflung geübt. So ge¬
wann er der Novelle und dem Drama
Sein
neue sensiblere Formen.
Suchen und Fragen ward in seinen
schönsten Werken reif, ward im „Ein¬
samen Weg“ beinahe Erhabenheit und
in seinem Judenroman „Der Weg ins
Freie“ fiebernder Nerv und beinahe
Schrei. Er steht in diesen Dichtungen
knapp vor der letzten, erlösenden Un¬
mittelbarkeit, die überzeugt. Und immer
gelingt ihm der unnachahmliche, ein¬
dringliche Reiz, der sein Dichtertum
ausmacht, immer findet er zur Schön¬
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heit. Man könnte es ihm nachrechnen,
daß er immer wieder dieselben aus¬
gesuchten, oft geradezu arrangierten
Probleme und Kombinationen dreht
und wendet. Aber es liegt darin eine
rührende Selbsttreue, ein echtes Sich¬
versenken, das seinen Lohn findet.
Ein Buch wie das soeben bei
S. Fischer erschienene „Masken
und Wunder“ fügt dem Schnitzler¬
schen Terrain keine neue Grenze zu.
Aber Novellen wie „Der Mörder“
„Das Tagebuch der Redegonda“, „Die
Hirtenflöte“ sind so sehr Reife und
persönliche Meisterschaft, geben die
Form der Schnitzlerschen Novelle so
gereinigt, bedeuten ein immer wesent¬
licheres Sichablösen und Erlösen, daß
sie, vom Dichter selbst bereitet, die
schönste Jubiläumsfeier bedeuten, die
möglich war. Berthold Viertel.
Dag Ma