VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 112

An Adtanr Schninler
Zum 50. Gelrrsra
(15. Mai 1912).
Pir gratulieren euch an diesem Tage,
such, unsern Brüdern, im geliebten Wien,
dir draußen kennen es fast nur durch ihn,
sem ich hier unsern Dank entgegentrage.
Wie oftmals lauschten wir der sanften Klage
us seinem Mund, wehmütige Melodien
mit Lust vermischt ließ er vorüberzieh'n
ils weicher, daseinsseliger Lotophage.
Und weiter träumt und spielt er Blatt um
Blatt
sein Wesen ab, schlicht, ohne wen zu fragen,
u schauen und zu schildern niemals satt.
Wir warten still, was wird er heuer tragen?
und lieben ihn — nichts Beßres läßt sich
sagen!
so wie sein Wien, die schönste Vaterstadt.
Herbert Eulenberg.
Kaiserswerth a. Rh.
Ja, was wird er heuer tragen, der Herr Schnitz¬
er — auf das sind wir auch neugierig — Hoffent¬
lich wird die Zeit, in der er „tragend“ ist, nicht allzu
flange dauern und er wird recht bald kalben — nichts
Besseres läßt sich sagen.
J.
Kostprobe
In eines andern eminentem Schädel
Rumort eintönig stets das „Süße Mädel“
Und zeugt vergnügt mit Max und Anatol
Gar viel Esprit und noch mehr Kohl.
„Der Mann — heißt's in der Presse — „der den
Geist
Gepachtet und als Großer sich erneist“
Obzwar ihm doch das meiste vorgetan
Die Jeanne Marni, der Henri Lavedan,
So 'was wie Heine, Rochefoucauld, Stendhal
Und Nietzsche, Swift und Bulwer allzumal,
Doch siehst du hin — in Ehrfurcht nicht, in scheuer!-
Was birgt denn wohl dies geistige Ungeheuer? —
Ei nun: reellen Dreck und künstlich Feuer.
Das aber schmeckt den guten Leuten just,
Je mehr pikant, so besser für die Brust.
Ins Seruelle spinn dich ein, o Dichter,
Und setze überall auf erotische Lichter,
Im Reigen lasse schweben flott vorbei
Die ganze Süße=Mädel=Kompanei,
Kannst gar du in Gedankenstrichen dichten
Die prickelnd=seinen Unterleibsgeschichten,
Und drechselst du als ein gewandter Schnitzler
Geschichten vom und für —
Ist deiner Ethik oberste Sentenz:
Nymphomanie, Orgasmus und Potenz,
Ward deinem Werke der Erfolg beschieden,
Zu wirken, wie die schärfsten Kanthariden,
Tritt selbst beim ausgedorrten Jubelschwein
Ein allerletzter Priapismus ein —
Dann bist du unser Mann — ach ein Poet,
Dem wohl die Lorbeerkrone kaum entgeht.
Und von den Großen aller Zeiten lennen
Die Leser dich zuvörderst und sie nennen
Dich amüsant, und deine Bücher gehn
Gar reißend ab, indes die andern stehn
Aus dem Buche „Die Waffen hoch!" Poli¬
tische und soziale Gedichte aus der Zeit und gegen
die Zeit. Von Ottokar Stauf von der March.-
Zürich 1907, Th. Schröters Nachf.
1

(


E Arthur Schnitzler“
bleibt in allem und jedem nur Genremaler.
Wir sollten ihn schematisch als Dramatiker
einreihen, aber Bühnenraffinement ist nicht
Dramatik und seine scherzhaften Einakter
sind geradeso Novelletten wie seine Novellen:
„Sterben“, „Leutnant Gustel“ und sein lite¬
rarisches Bild verkörpert sich einzig in der
Bühnennovelle „Liebelei“. Seine Versuche
im Thesen= und Problemstück „Freiwild“,
„Der einsame Weg“, „Der Ruf des Lebens“
zeigen den Mißbrauch der Dramenform für
novellistischen Zweck. Gemeinsam aber hält
dies innerlich verworrene Treiben ein Grund¬
gefühl zusammen: das Erotische. Sogar im
dunkel=seichten Renaissancestück „Der Schleier
der Beatrice“, dessen formale Vorzüge von
Hoffmannsthal angelernt, wird eine Haupt¬
und Staatsaktion zu schleierhafter Liebelei.
Daß diese bei ihm öfters zur Liebestragödie
werden soll, hat er rein äußerlich anempfun¬
den, seiner reizvollen Machepalette solche
düsteren Farben abgequält. Sein einziges
wirklich ernst aus dem Innersten gequollenes
Opus, die zehn schmutzigen Dialoge „Reigen“.
formal manchmal an Reinhold Lenz erin¬
nernd, hat notwendigerweise den Endzweck,
die ihm allein gültige Erotik zu symbolisie¬
ren, mit starken, naturalistischen Nuancen,
doch fern jeder großen Linie. Die Armut
und Leere verdeckt er als Handelskundiger
durch sparsame Zinsanlage seines kleinen
Vermögens. Kaum ist er tot, da wuchert das
Gras schon wieder; kaum ist sein neuestes
Gegenüber den übergeschnappten Jubelfanfa¬
ren der Jerichoposaunen und Schofarhörner in den
Judenblättern, welche Schnitzler als „bedeutendsten
Dichter (?) und Dramatiker (!) Oesterreichs“ feiern,
wird es gut sein, das Urteil eines wirklich bedeu¬
tenden Dichters und Schriftstellers über die aufge¬
plusterten Halblemure aus Anatolien zu vernehmen.
Daß der geniale Bleibtreu zu wesentlich anderen
Schlüssen kommt als die kritisierenden Judenjungen,
deren Bildung (mit Grabbe zu reden) im Schweine¬
— Die
fleischessen besteht, ist nicht seine Schuld.
Charakteristik steht in Bleibtreus jüngstem Buche:
„Geschichte der deutschen Nationalliteratur von
Goethes Tod bis zur Gegenwart“, dessen Besprechung
Die Schriftleitung
wir uns vorbehalten.
Si. Lehte it unle . Uhr sis
Verbürgt dir heutzutage diel Sulzeß.
Das sind die Bücher, die man heut noch kauft,
Je wüster solch ein Schmarrn, so wilder rauft
Sich voll Begier und voller Brunst darum
Das liebe, hochverehrte Publikum. —
Seht nur die Fenster vieler Bücherbuden,
Gleichviel, ob Christen Herr'n sind oder Juden,
Sobald ihr dieses Schrifttum angesehn,
Muß auch die frömmste Galle übergehn.
Bei dieser Art Erotik ist ja nur
Die ganze Pornographenliteratur
Der keuscheste Pastorentochtertraum.
Ja, selbst der Sanchez und der Busenbaum,
Der Laynez, Gury und die ganze werte
Gepriesene Gerasener Schweineherde,
Die Jünger Jesu, welche die Grotik
Verchristlichten in katechetische Zotik,
Mitsamt Ser Aretinos lussuriosi
Sonetti oder auch den Capricciosi
Raggionamenti im Vergleich fürwahr
Sind aller Unkeuschheit und Sünde bar,
Gleichwie des Campe und des Schmid Geschichten,
Und könnten dienen selbst zum Unterrichten.
Der Unflat liegt in Haufen auf den Budeln,
Die liebe Leserschaft damit zu nudeln,
Und Faultier Staat sieht in vergnügter Ruh
Der systematischen Verschweinung zu;
Und auf der andern Seite protzt wie nie
Die ungeheuerlichste Prüderie!
Das Standbild eines nackenden Apoll,
Der schön und kraftvoll auf zur Höhe steigt
Und seinen Stempel — siehe Schiller! — zeigt,
Das Standbild macht die keuschen Seelen toll,
Und unsere liebe Frau von Amathunt
Wühlt sittliche Entrüstung auf vom Grund.
Man denke nur: Zwei splitterfasernackte
Gestalten, edelschön und reizend,
Mit ihren süßen Formen nimmer geizend -
Sehn möcht' ich den, den 's nicht im Innern packtel
Das aber ist es eben, die Gefühle,
Sie leiten Wasser; f des Satans Mühle!
Der Freigeist nennt's ästhetischen Genuß;
In Wahrheit wird damit der Priapus
Geweckt, wovor sich ängstlich hüten muß
Der wahre Christ. Und also läßt die Sippe,
Die Volk und Herrscher führt an ihrer Strippe,
Dem nackigten Apoll ein Futteral
Anstecken und der Venus von Perkal
Ein Unterröckchen um die Lenden legen,
Auf daß beim Anblick ihrer Naturalien
Sich nicht die „tierischen" Begierden regen
Der frumben Herren, die mit den Fäkalien
Liguorischer Moraltheologie
Zum Bersten vollgepfropft die Phantasie.
Sie fürchten — aber ihr versteht mich schon,
Wenn ich nur sage: Insurektion!
Und ach! kein Beichtkind in der Nähe weilt,
Daß es des Moralisten Schmerzen heilt ...
Um zu vermeiden solch Gelüst, bekam
Jedwede Nacktheit eine kurze Scham.
Und Faultier Staat sieht in vergnügter Ruh
Der systematischen Vertrottlung zu ...
Derselbe Staat, der sonst so sehr empfindlich,
Läßt du ein Wörtchen fallen, unverbindlich,
Geschichtlich, von politischer Verknechtung,
Von schwerem sozialen Druck, Entrechtung
Und anderer Niedertracht, an der zumal
Der „Rechtsstaat“ reich, daß einem schwer die Wahl
Unter den vielerlei Exempeln wird,
Derselbe Staat verbietet, konfisziert
Alsdann frischfromm, ja hetzt dir allenfalls
Ein hübsch Prozeßchen noch auf deinen Hals
Und sperrt dich ein — merkst du, Amalia?
Die Kunst: wie wenig sapientia
Es braucht, ein ganzes Weltall zu regieren?