VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 118

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Arthur Schnitzler
0 In seinem schönen und ernsten Buch: „Vom Leben
und vom Tode“, hat uns Wilhelm Fließ an einigen Bei¬
spielen gezeigt, wie in der Natur scheinbar selbständige
und getrennte organische Gebilde unter gewissen Um¬
ständen zusammen doch nur eine einzige Persönlichkeit
bilden und trotz der räumlichen Trennung plötzlich und zu
gleicher Zeit einen gemeinsamen Tod erleiden. Fast will
es scheinen, als wenn auch im geistigen Leben der Völker
ähnliche Gesetze wirksam sind, als wenn die verschieden¬
artigsten Erscheinungen einer Zeit doch nichts anderes
sind als die verzweigten Aeste eines Stammes, die ihre
Wurzeln in gleicher Stunde und in gleichem Boden haben,
so daß auch sie zusammen nichts anderes sind als eine
einzige, alle Säfte der Zeit in sich tragende Persönlichkeit.
Das neunzehnte Jahrhundert hat genügend Beispiele
hierfür. Ein guter Jahrgang war schon 1813. Auf seinem
Boden entstand die große Dreieinigkeit von Wagner,
Auf dem frischen, durchfurchten
Hebbel und Ludwig.
Acker des befreiten Preußens erwuchsen 1815 seine beiden
größten Bekenner: Bismarck und Menzel. 1819 brachte
mit ebenso erstaunlichem Zusammenhang die größten Fabu¬
lierer: Fontane und Gottfried Keller; und auch die ver¬
zweigten Aeste des modernen Lebens haben ihre gemein¬
same Wurzel im gleichen Jahre 1862. Den Zug der nun¬
mehr Fünfzigjährigen, der so verschiedenartig geformte
Köpfe der modernen Kunst wie Gerhart Hauptmann und
Fulda, Johannes Schlaf, Maeterlinck und Otto Ernst um¬
faßt, beginnt Arthur Schnitzler.
Schnitzler hat uns über ein Dutzend Dramen, eine
Anzahl Novellen=Bände und den Roman: „Der Weg ins
Freie“ geschenkt. Fast alles ist modern, und wo der
Dichter historisch kommen will, selbst in der Renaissance¬
Tragödic vom „Schleier der Beatrice“ oder im
„Paracelsus“, ist das historische Kolorit meist doch nicht
waschecht genug als daß man hinter der schönen Ein¬
rahmung und dem Fluß seiner Sprache nicht die moderne
Seele mit ihren Problemen hervorlugen sähe. Nur ein¬
mal ist ihm ein historischer Vorwurf restlos gelungen.
nur in einem Einakter zwar, aber in einem von uner¬
hörter Meisterschaft. Der Dichter nennt den „grünen
Kakadu“ eine Groteske, und wird dadurch ungerecht
gegen sein bestes Stück. Wir sind in einer Verbrecher¬
kneipe in Paris am Abend vor der Erstürmung der
Bastille. Ein entnervter Adel, hochmütig und blasiert,
peitsch, dort sein Blut am Anhören fingierter Greuel¬
tate auf, während unterirdisch schon das dumpfe Grollen
des kommenden Tages hörbar ist, an dem ein gedrücktes
Volk sich seine Freiheit raubt. Das ist mit einer Meister¬
schaft ohnegleichen geformt, und in einer für Schnitzler
seltenen Kraft durchgeführt.
Die modernen Dramen Schnitzlers sind leidenschafts¬
loser; sie schildern weniger die Leidenschaften selbst, als ihr
Verklingen, nicht so sehr Verwirrungen als Entwirrungen,
Entfremdungen. Bei Schnitzler kommen die Menschen nur
sehr selten zu einander. Sein Thema ist mehr das Ent¬
gleiten, das Entsagen, das Altern. Was sonst den drama¬
tischen Dichter locken mag: Der Kampf des Menschen mit
der Außenwelt, mit den Menschen, mit den Dämonen in
ihm, mit dem Sittengesetz, alles, was den Lebensnerv
des dramatischen Schaffens bei Shakespeare, Schiller,
Hebbel, Ibsen, Hauptmann, ja selbst Wedekind ausmacht.
davon klingt wenig in Schnitzlers Dramen. Er rührt
an keinen Mythos, er kennt außer in seinem Roman kaum
die Fragen der Zeit. Aber seine Kunst klingt nach, sie
greift leise ans Innerlichste und macht bedenklich. Schnitzler
gehört zu den ganz wenigen Dichtern, die ihre Bekennt¬
nisse nicht wie ein eifervoller Gott als oberste Noi# hinaus¬
rufen, morsche Welten zerstören und neue aufbauen wollen.
Hierzu fehlt ihm der priesterliche Mut. Seine Menschen
erkennen sich dafür selbst. Sie tun es mit Bitterkeit und
Ironie, bisweilen mit liebenswürdigem Entsagen, aber
ihre Sehnsucht greift nur selten zur Tat. In dem reifsten
seiner modernen Dramen, dem „einsamen Weg“ blitzt
es in der dunklen Musik einer fast lyrisch zu nennenden
Prosa oft vor unendlichen Ahnungen von Schuld und
seht
Su seinem 50. Seburtstage.
nüssen des Lebens greifen dürfen, ironische, ein wenig
müde Menschen ohne Illusion, die einander so gut kennen,
daß sie sich gegenseitig die „Stichworte“ geben. Aber doch
Menschen von Geschmack, die, ohne viel Worte zu machen,
mit weltmännischer Gelassenheit und Selbstverständlichkeit
zu sterben wissen, wenn es Zeit ist, nämlich wenn sie in
reifster Selbstkritik ihre Lebensbilanz gezogen haben. Sie
rufen keine Anklagen gegen die Welt aus, sie haben kein
Prophetenfeuer, aber sie tragen doch die Erkenntnis in
sich, wie arm und eng ihre Welt ist. Das Ethos Schnitzlers
wird nie pathetisch, aber es lebt als lebendiger Selbst¬
vorwurf in seinen Menschen. Und eine Selbstkritik des
Dichters über alle Verfeinerungen der Kultur seiner Welt
ist es, wenn er nur solche Männer, die vom Philiströsen
nicht ganz frei, sonst aber wohl „tüchtig“ im Sinne Goethes
sind (im „Einsamen Weg“ im „Paracelsus“ in
der „Gefährtin“), zur Herrschaft über sich kommen,
Liebe gewinnen, oder ein Ungemach überwinden läßt.
Was tuen seine Menschen? Sie lieben das Leben
als solches. Sie genießen es, und verstehen, aus Erinne¬
rungen früherer Zeiten und amoureuser Begebenheiten
eine schönere Welt sich zu erwecken. Sie sind Künstler
der Illusion, die sich am Fernen und Vergangenen so lange
berauschen, bis beides lebendige Gegenwart wird, aber
die Gegenwart selbst können sie nicht fassen. Dreimal
(im „weiten Land“ im „einsamen Weg“ und im „jungen
Medardus“) bieten sich bei Schnitzler junge Mädchen
Männern, die sonst nach allem Köstlichen zu greifen ge¬
wöhnt sind, zur Braut, zur Geliebten an, und keiner von
diesen weiß solch Glück, das ihm in der Erinnerung heilig
dünken würde, zu fassen und sich zu erhalten. Ueber¬
haupt sind bei Schnitzler die Frauen meist die Ueber¬
legeneren. Sie sind unkomplizierter als seine MMänner.
Ihre Gefühle sind lebenswärmer, ihre Sehnsücht läßt sie
nach Greifbarerem verlangen. Sie sind ganz Aib, ob es
sich um die zweifelhaften Gestalten des „Reigens“ händelt,
wie in der
ob um rührend junge Mädchengestalten
„Liebelei“, oder um willensstarke Frauen, die den Mut
haben, ihr Schicksal selbst zu formen, wie im „Ruf des
Lebens“ oder im „Zwischenspiel“.
Worin besteht Schnitzlers Wert für uns? Zunächst
zweifellos im Künstlerischen. Er baut klug auf, er sieht
wahr und echt, er gestaltet mit Geschmack. Wer von allen
Modernen verfügt über eine ähnliche geistreiche Prosa,
wer beherrscht Witz und Anmut wie er und vermag
doch zugleich in Worten von dunkler Schwermut und in
einer Sprache, die tiefster Traurigkeit fähig ist, an
das Innerste zu rühren? Wie das Problem Weib“
aufgerollt wird, wie in einzelnen Stücken die Beziehungen
der Geschlechter zueinander kunstvoll verknüpft sind, be¬
sonders im „Weiten Land“ das ist meisterhaft, und keiner
kennt so wie er die „große Kunst des Hintergrundes und
das Geheimnis zweifelhafter Lichter“, wie es Hoffmanns¬
thal am Künstler rühmt.
In diesen Gesellschaftsdramen, die ein Minimum
von Pathos und sittlichem Handeln mit einem Maximum
von Selbsterkenntnis, Anmut und stiller Ironie verbinden,
steigen Bilder einer schöneren, männlicheren Welt auf,
wo es „weniger auf Geist als auf Haltung“ ankommt.
Diese Erkenntnisse, die da wach werden, sind zugleich das
dichterisch Wertvollste bei Schnitzler. Da wachen Träume
auf, und alles wird zum Spiel. Dem Arzt Schnitzler geht
Wachen oft in Traum und Wirklichkeit in Spiel über,
nur daß er selten die Kraft oder den Willen hat, seine
Träume zu deuten und zu merken, und im Spiel das
Symbol zu erfassen. So werden bei Schnitzler meist nur
die Konturen verwischt, ohne daß aus Traum und Spiel
das Gleichnis geboren und die Wirklichkeit zur Welt
geweitet wird.
Das sind die Möglichkeiten und Grenzen dieses feinen
Kopfes. Wer seine reifsten Früchte genießen will, der
greife, wenn ihm bei der Lektüre der demnächst erscheinen¬
den Gesammelten“ das Werk des Dichters zu zerflattern
droht, zum „Anatol“ und zur „Liebelei“ zum „Grünen
und zum Einsamen Weg“ Dort quillt die
talodn