VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 117

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Arthur Schnitzler
Su seinem 50. Seburtstage.
0 In seinem schönen und ernsten Buch: „Vom Leben nüssen des Lebens greifen dürfen, ironische, ein wenig
und vom Tode“, hat uns Wilhelm Fließ an einigen Bei= müde Menschen ohne Illusion, die einander so gut kennen,
daß sie sich gegenseitig die „Stichworte“ geben. Aber doch
spielen gezeigt, wie in der Natur scheinbar selbständige
Menschen von Geschmack, die, ohne viel Worte zu machen,
und getrennte organische Gebilde unter gewissen Um¬
mit weltmännischer Gelassenheit und Selbstverständlichkeit
ständen zusammen doch nur eine einzige Persönlichkeit
zu sterben wissen, wenn es Zeit ist, nämlich wenn sie in
bilden und trotz der räumlichen Trennung plötzlich und zu
reifster Selbstkritik ihre Lebensbilanz gezogen haben. Sie
gleicher Zeit einen gemeinsamen Tod erleiden. Fast will
rufen keine Anklagen gegen die Welt aus, sie haben kein
es scheinen, als wenn auch im geistigen Leben der Völker
Prophetenfeuer, aber sie tragen doch die Erkenntnis in
ähnliche Gesetze wirksam sind, als wenn die verschieden¬
sich, wie arm und eng ihre Welt ist. Das Ethos Schnitzlers
artigsten Erscheinungen einer Zeit doch nichts anderes
wird nie pathetisch, aber es lebt als lebendiger Selbst¬
sind als die verzweigten Aeste eines Stammes, die ihre
vorwurf in seinen Menschen. Und eine Selbstkritik des
Wurzeln in gleicher Stunde und in gleichem Boden haben.
Dichters über alle Verfeinerungen der Kultur seiner Welt
so daß auch sie zusammen nichts anderes sind als eine
ist es, wenn er nur solche Männer, die vom Philiströsen
einzige, alle Säfte der Zeit in sich tragende Persönlichkeit.
nicht ganz frei. sonst aber wohl „tüchtig“ im Sinne Goethes
Das neunzehnte Jahrhundert hat genügend Beispiele
sind (im „Einsamen Weg“, im „Paracelsus“, in
hierfür. Ein guter Jahrgang war schon 1813. Auf seinem
der „Gefährtin"), zur Herrschaft über sich kommen,
Boden entstand die große Dreieinigkeit von Wagner,
Liebe gewinnen, oder ein Ungemach überwinden läßt.
Auf dem frischen, durchfurchten
830.
Hebbel und Ludwig.
Acker des befreiten Preußens erwuchsen 1815 seine beiden
Was tuen seine Menschen? Sie lieben das Leben
größten Bekenner: Bismarck und Menzel. 1819 brachte
als solches. Sie genießen es, und verstehen, aus Erinne¬
mit ebenso erstaunlichem Zusammenhang die größten Fabu¬
rungen früherer Zeiten und amoureuser Begebenheiten
lierer: Fontane und Gottfried Keller; und auch die ver¬
eine schönere Welt sich zu erwecken. Sie sind Künstler
zweigten Aeste des modernen Lebens haben ihre gemein¬
der Illusion, die sich am Fernen und Vergangenen so lange
same Wurzel im gleichen Jahre 1862. Den Zug der nun¬
berauschen, bis beides lebendige Gegenwart wird, aber
mehr Fünfzigjährigen, der so verschiedenartig geformte
die Gegenwart selbst können sie nicht fassen. Dreimal
Köpfe der modernen Kunst wie Gerhart Hauptmann und
(im „weiten Land“ im „einsamen Weg“ und im „jungen
Fulda, Johannes Schlaf, Maeterlinck und Otto Ernst um¬
Medardus“) bieten sich bei Schnitzler junge Mädchen
faßt, beginnt Arthur Schnitzler.
Männern, die sonst nach allem Köstlichen zu greifen ge¬
Schnitzler hat uns über ein Dutzend Dramen, eine
wöhnt sind, zur Braut, zur Geliebten an, und keiner von
Anzahl Novellen=Bände und den Noman: „Der Weg ins
diesen weiß solch Glück, das ihm in der Erinnerung heilig
Freie“ geschenkt. Fast alles ist modern, und wo der
dünken würde, zu fassen und sich zu erhalten. Ueber¬
Dechter historisch kommen will, selbst in der Renaissance¬
haupt sind bei Schnitzler die Frauen meist die Ueber¬
Tragödie vom „Schleier der Beatrice“ oder im
legeneren. Sie sind unkomplizierter als seine MMänner.
„Paracelsus“, ist das historische Kolorit meist doch nicht
Ihre Gefühle sind lebenswärmer, ihre Sehnsucht läßt sie
waschecht genug, als daß man hinter der schönen Ein¬
nach Greifbarerem verlangen. Sie sind ganz b ob es
rahmung und dem Fluß seiner Sprache nicht die moderne
sich um die zweifelhaften Gestalten des „Reigens“ händelt,
Seele mit ihren Problemen hervorlugen sähe. Nur ein¬
ob um rührend junge Mädchengestalten wie in der
mal ist ihm ein historischer Vorwurf restlos gelungen.
„Liebelei“, oder um willensstarke Frauen, die den Mut
nur in einem Einakter zwar, aber in einem von uner¬
haben, ihr Schicksal selbst zu formen, wie im „Ruf des
hörter Meisterschaft. Der Dichter nennt den „grünen
Lebens“ oder im „Zwischenspiel“.
Kakadu“ eine Groteske, und wird dadurch ungerecht
Worin besteht Schnitzlers Wert für uns? Zunächst
gegen sein bestes Stück. Wir sind in einer Verbrecher¬
zweifellos im Künstlerischen. Er baut klug auf, er sieht
kneipe in Paris am Abend vor der Erstürmung der
wahr und echt, er gestaltet mit Geschmack. Wer von allen
Bastille. Ein entnervter Adel, hochmütig und olasiert,
Modernen verfügt über eine ähnliche geistreiche Prosa,
peitscht dort sein Blut am Anhören fingierter Greuel¬
wer beherrscht Witz und Anmut wie er und vermag
taten auf, während unterirdisch schon das dumpfe Grollen
doch zugleich in Worten von dunkler Schwermut und in
des kommenden Tages hörbar ist, an dem ein gedrücktes
einer Sprache, die tiefster Traurigkeit fähig ist, an
Volk sich seine Freiheit raubt. Das ist mit einer Meister¬
das Innerste zu rühren? Wie das Problem „Weib“
schaft ohnegleichen geformt, und in einer für Schnitzler
aufgerollt wird, wie in einzelnen Stücken die Beziehungen
seltenen Kraft durchgeführt.
der Geschlechter zueinander kunstvoll verknüpft sind, be¬
Die modernen Dramen Schnitzlers sind leidenschafts¬
sonders im „Weiten Land“, das ist meisterhaft, und keiner
loser; sie schildern weniger die Leidenschaften selbst, als ihr
kennt so wie er die „große Kunst des Hintergrundes und
Verklingen, nicht so sehr Verwirrungen als Entwirrungen,
das Geheimnis zweifelhafter Lichter“, wie es Hoffmanns¬
Entfremdungen. Bei Schnitzler kommen die Menschen nur
thal am Künstler rühmt.
sehr selten zu einander. Sein Thema ist mehr das Ent¬
In diesen Gesellschaftsdramen, die ein Minimum
gleiten, das Entsagen, das Altern. Was sonst den drama¬
von Pathos und sittlichem Handeln mit einem Maximum
tischen Dichter locken mag: Der Kampf des Menschen mit
von Selbsterkenntnis, Anmut und stiller Ironie verbinden,
der Außenwelt, mit den Menschen, mit den Dämonen in
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steigen Bilder einer schöneren, männlicheren Welt auf,
ihm, mit dem Sittengesetz, alles, was den Lebensnerv
wo es „weniger auf Geist als auf Haltung“ ankommt.
des dramatischen Schaffens bei Shakespeare, Schiller,
Diese Erkenntnisse, die da wach werden, sind zugleich das
Hebbel, Ibsen, Hauptmann, ja selbst Wedekind ausmacht.
dichterisch Wertvollste bei Schnitzler. Da wachen Träume
davon klingt wenig in Schnitzlers Dramen. Er rührt
auf, und alles wird zum Spiel. Dem Arzt Schnitzler geht
an keinen Mythos er kennt außer in seinem Roman kaum
Wachen oft in Traum und Wirklichkeit in Spiel über,
die Fragen der Zeit. Aber seine Kunst klingt nach, sie
nur daß er selten die Kraft oder den Willen hat, seine
greift leise ans Innerlichste und macht bedenklich. Schnitzler
Träume zu deuten und zu merken, und im Spiel das
gehört zu den ganz wenigen Dichtern, die ihre Bekennt¬
Symbol zu erfassen. So werden bei Schnitzler meist nur
nisse nicht wie ein eifervoller Gott als oberste Norm hinaus¬
die Konturen verwischt, ohne daß aus Traum und Spiel
rufen, morsche Welten zerstören und neue aufbauen wollen.
das Gleichnis geboren und die Wirklichkeit zur Welt
Hierzu fehlt ihm der priesterliche Mut. Seine Menschen
geweitet wird.
erkennen sich dafür selbst. Sie tun es mit Bitterkeit und
Das sind die Möglichkeiten und Grenzen dieses feinen
Ironie, bisweilen mit liebenswürdigem Entsagen, aber
Kopfes. Wer seine reifsten Früchte genießen will, der
ihre Sehnsucht greift nur selten zur Tat. In dem reifsten
greife, wenn ihm bei der Lektüre der demnächst erscheinen¬
seiner modernen Dramen, dem „einsamen Weg“, blitzt
den „Gesammelten“ das Werk des Dichters zu zerflattern
es in der dunklen Musik einer fast lyrisch zu nennenden
droht, zum „Anatol“ und zur „Liebelei“ zum „Grünen
Prosa oft vor unendlichen Ahnungen von Schuld und
Zakadu“ und zum „Einsamen Weg“. Dort quillt die
verlorenem Glück auf. Hier, wie fast überall bei ihm, lebt
Melodie, um deretwillen wir den Dichter lieben, am
dieselbe Welt, dieselbe Umgebung. Gut gepflegte Men¬
Manfred Berger.
reinsten.
schen, die keine materielle Not kennen, die nach den Ge¬
X. Jahrg.
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