VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 143

unnahbar, lchenkt lich die Kleine im ralchen Augenblick
der Liebe dem Jüngling. Sie ist Gretchen, dem für den
Arthur Schnitzler
Geliebten zu tun nichts mehr übrig bleibt, Kätchen, das
Zu leinem 50. Geburtstag/ 15. Mai 1912
ihm demütig folgt, Klärchen, von dem das Wort gilt:
Von Hermann Kienzl
halb Dirne, halb Göttin.
Die Wiener Liebeslult, die Wienerinnen und ihre
1862 ilt das Geburtsjahr Gerhart Hauptmanns und
Galane in allen Schichten und Ständen fammeln die
Arthur Schnitzlers. Zwilchen diefen beiden Namen Rteht¬
frechen und im letzten Grunde weisheitsvollen erotilchen Ein¬
das junge deutiche Drama. Doch Chorführer, Fahnen¬
akter des Buches „Reigeng, die in verlchiedenen Formen
träger war der Schlelier nur in leinen jungen Tagen, und
geselllchaftlicher Konvention, in den Regionen der Straßen¬
ist der Wiener nie gewelen. Die Dichtung Hauptmanns
dirne und des Soldaten, des füßen Mädels, des Arilto¬
ilt lozialer und lommerlicher, die Schnitzlers weicher
kraten, des Dichters, der Schaulpielerin, der verheirateten
und herbstlicher. In der Senüibilität der Sinne und der
Dame und des Gatten (beide auf Nebenwegen) zur
Seele, der reizbaren, überwachen Nerven ist Schnitzler
Plychologie des animalischen Vorgangs führen
mit keinem zu vergleichen; und leine ölterreichilche
und selblt in der Roheit die Würde des Gedankens und
Heimaterde, deren unverkennbare Frucht er ist, hat keinen
eine naturaliltilche Grazie wahren. Wie lchon im „Anatole,
zweiten Dichter werden lallen, der zu der charakteriltilchen
zeigt lich noch deutlicher hier eine Verwandtichaft
„Jungwienere Milchung des Sinnlichen, Schwermütigen
Schnitzlers mit Maupallant, aber den Wiener hebt die
und Dämmerigen diele klare Bewußltheit beläße.
deutiche Sinnhaftigkeit über die gallilche Sinnlichkeit
Grüßen wir heute Arthur S##nitzler auf der Höher
emnpor.
leiner fünfzig Lebensjahre, lo ilt unfer Herzensgedächtnis
Schnitzler, der Dichter der Mondänen, hat doch den
überträchtig von zlebendigen Stundens. Dem Biographen
inniglten Zulammenhang mit dem breiten Volksboden.
lei die Aufgabe überlallen, die bürgerlichen Stationen
Wer es nicht an leiner Chriltine erkannte, den mußte
einer Lebenspilgerfahrt aufzuzeichnen. Flüchtige Schatten
das Altwiener Stück „Der junge Medarduse (1910)
eines noch immer werdenden Lebenswerkes zu erhalchen,
überzeugen. Das glänzende hiltorilche Panorama der
ist hier das bescheidene Ziel. Es lind nur einige wenige
Kriegs- und Napoleontage von 1809 tut lich auf — und
Leitgedanken und Welensgrundzüge in Schnitzlers Taten¬
Wien mit leinen auch heute noch lo heimlich-Rtillen
fülle aufzuweilen; aber lie umlpannen einen großen Reich¬
Gallen inmitten des braufenden Verkehrs, mit leinen
tum, und die Stimmungen leines begrenzten Welens, die
Gärten und Reben, mit leinen hier altmodilch gekleideten
Gestaltungen leiner forlchenden Phantahie lind überaus
und im Welen leither nicht veränderten Wienern. Die
männigfaltig und begehren verharrendes Genießen.
Tragödie des wohlhabenden lünglingt, des angekränkelten
Arthur Schnitzler ilt nicht bloß zufällig in Wien ge¬
Altheten von anno dazumal (Medardus), der leiner Rache¬
boren, wie man etwa in Leipzig oder Hannover geboren
Liebe zu der verbannten Prinzellin von Valois und, wie
lein mag; er ilt ein lebendiges Stück Wienertums, Jenes
die meilten Schnitzler-Heldeng, einer Illulion und deren
Wienertums von überfeiner Kulturüberlieferung, das im
Zeritörung zum Opfer fällt; und dar költliche Puppen¬
Schatten der alten Palälte trauert, wehmütig-hold umlpielt
lpiel der Flöflinge —: das ilt Kaviar für Feinichmecker.
vom Frohlinn des Wiener Tages, des Wiener Blutes, ja,
Dennoch kann man wohl verltehen, dal das „Wiener
umlpielt von leilen Düften des Weines und Klängen der
Gemüte bei den Burgtheater-Aufführungen der tragilchen
Geige, von wonnigen Liebesorgien. Es wäre Itilvoller
Komödie wärmer und wärmer brodelte, denn der Wiener,
von Schnitzlers Mutter geweien, dielen Dichter nicht an
der diele Vergangenheit betrat, fand in ihr lich selblt.
einem Mai-, londern an einem von Goldganz und Herbit¬
Wie wundervoll echt lind diele Leutchen, diele gutmütigen
fäden durchwobenen Oktobertag zur Welt zu bringen!
und neugierigen, bequem zu knechtenden, lensations¬
Schnitzler ltammt aus den wohlhabenden Kreilen
fröhlichen, Ichaulpielerilchen Leutchen! Unter ihnen aber
höchlter willenschaftlicher und geselllchaftlicher Bildung,
auch kluge und felte Bürger, ichlicht und treu bis zum
denen ja auch die meilten Perlonen leiner Dichtungen
Tod. Vollkommen tendenzlos durchlebt Schnitzler menich¬
angehören, — angefangen vom Lebe-Knaben „Anatole
liche Stärke und Schwäche. Seine Satire ilt eigener Art
(1893), der lich melancholilch vergeudet, vom Genuli zur
und hinterläßt keine Bitterkeit.
Begierde schmachtet und ein Weiberkenner ist, der das
Es kann hier nicht auf die Erzählungen Schnitzlers
Weib nicht kennt, — bis etwa zu dem müden Herrn
eingegangen werden, die mit dem Wuchle der Gedanken,
von Sala („Der einlame Wege), der das Zeichen des
mit ihren Stimmungsreizen und mit ihrer Stilkunft eben¬
Hippokrates trägt und ein reifer Althetiker ohne Lebens¬
bürtig neben leinen wertvolllten Dramen stehen. Aber
glauben ist. Auch das „füße Mädelz, Schnitzlers holdelte
der Roman „Der Weg ins Freiee (1908) mull gestreist
Frauenschöpfung, ilt gewillermaßen nur ein Requilit auf
werden, weil er für die Betrachtung der menichlichen
der Lebensbühne der reichen jungen Leute Wiens. Kann
und dichterilchen Perlönlichkeit Schnitzlers von belonderem
lein, daß einer mit dem lchwermütigen Gelang Anatole
Belang ist. Dieles Itille, kontemplative Buch, ein Roman,
bei der Berührung mit dem Paradies eines schuldlos¬
der trotz licherer Führung eines perlönlichen Schicklals
lündigen Kindes aus dem Volke mehr findet, als eine,
in breitelte Reflexion und Zultandsichilderung ausfließt,
nachdenkliche Laune auf dem Boden des leergetrunkenen.
hat Senlation erregt; allerdings hat er weniger ein Echo
Bechers. So geschieht es, kurz ehe er für eine andere
leiner inneren Stimmen als ein loziales Interelle geweckt.
Frau iterben geht, dem jungen Fritz in Schnitzlers
Denn das Buch behandelt die Judenfrage, gibt in hunderten
ergreifendstem Wiener Stück sLiebeleig (1895). Hier
von Geltalten das Judentum Wiens in leinen Zulammen¬
gibt uns der Dichter auch die Apotheole leines #füßen
hängen und Gegenlätzen und in leinen Verhältnillen zur
Mädelse, die Chriltine, die doch lo ganz und gar aus
wirklichem Fleiich und Blut ist. Allen Lockungen bisher Welt. Kein Politiker und Predigen, ein Bekenner hat
346