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B
otthdar
ADOLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAU
BERLIN SO. 16, RUNGESTR 22-24
Zeitung, Mittagsblatt
Achesser Frankfurt a. M.
S MAIIZ
Datum:
1
1
Neues Theater.
Schnitzlers 60. Geburtstag waren zwei Einakter neuein¬
studieft ##mnfüherschon im „Neuen Theater“ gesehen hat.
Diesmal hiite Robin Robert die Regie und bewies vor allem
an der Widergabe der beiden letzten Einakter, in wie ausgezeich¬
neter Spiesleiter er gerode für diese Art von Stücken ist. Da war
jede Stimmung, jedes Wort, jede Scowingung bedacht. Willig folg¬
ten die Spieler: Die stärkste Leistung des Abends Kurt Gerdes,
der in allen drei Akten die Hauptrolle svielte. Theatralisch am
eindrucksvollsten im „Grünen Kakadu“ als Henry. Schlicht vor¬
nehm, von bezwingender Männlichkeit in den Gefährten“. Aus
dem Kreise der übrigen Mitspieler und Mitspielerinnen müssen ge¬
nannt werden: Alice Rohde, Anny Reiter (prächtig in den
„Gefährten“), Fred Hennings, August Weber Alois
Großmann, Idse Almas, Peter Staudina
M. Geisenherner.
—
#
Literarieche Eeno
948
Berlin
11 5 MAIW22
Arthur Schnitzlers Gestalten und Probleme. Von
Josef Körner. Zürich=Leipzig=Wien 1921, Amalthea¬
Verlag. 266 S. M. 30,—
Knapp vor dem sechzigsten Geburtstage Arthur
Schnitz'ers gibt Körners Buch die erste systematische Über¬
sicht eines Wirkens, das jahrzehntelang im vordersten
Treffen des deutschen Schrifttums gestanden hat. In
zwölf Abschnitten sind mit wahrem Bienenfleiße sämtliche
Motive vorgeführt, aus denen Schnitzlers Menschen und
Situationen zusammengesetzt erscheinen. Der Betrachter
jübt sichtliche Zurückhaltung, setzt nur hie und da ein posi¬
tives Werturteil und läßt im allgemeinen einzig die Wärme
des Tones für sein Objekt sprechen. Dabei scheint es oft,
lals würde diese Liebe unbewußt verstärt von dem Gefühl,
daß hier eine dichterische Welt rettungslos der Vergangen¬
heit angehört. Würde Körner, der im Eingang eine nach
sorganischen Bedingungen forschende Literarhistorie schroff
zurückweist, sich tiefer mit dem Wesen österreichischer und
speziell wienerischer Lebens= und Dichtungsform beschäftigt
haben, es wäre ihm nicht unterlaufen, die Bedingungen
der jungwiener Literatur am Ausgang des 19. Jahrhunderts
aus innerpolitischen Zuständen abzuleiten. Die Konstruktion
eines „Vormärz mit liberalen Privilegien“ ist durchaus nicht
zu halten, denn das Wesen des österreichischen Vormärzes
ist eine geschlossene Volkseinheit, deren Lebensgefühl
klassenmäßig höchstens abschattiert, nicht aber zerspalten war.
Erst die nach 1848 einsetzende Zufuhr von fremdem Blut
und fremdem Intellekt bedingt das Aufkommen einer
liberalen Bourgeoisie, und die Reaktion des Antisemitismus
bedeutet nichts anderes als die österreichische Form des
sozialistischen Gedankens („den Sozialismus des dummen
Kerls“ nannte ihn ein wissender Österreicher). Vom Glück
und Ende der nach 1848 angelangten liberalen Bourgeoisie
müßte also ein Forscher ausgehen, um das Problem Schnitz¬
ler zu erkennen, vom Lebensgefühl eines in die Sinnen¬
landschaft des Kahlenberges geworfenen Intellektes, der in
der Dichtung die Verbindung beider antipodischer Kräfte
herzustellen sucht. Vermöge überragenden formalen Talen¬
tes wirkt das so Geschaffene, solange seine äußeren Lebens¬
zustände unverändert bleiben und die Gesellschaftsklasse,
der es entsprungen ist, sich am Leben erhält. Mit dem
Untergang der liberalen Bourgeoisie hat auch die Welt
Arthur Schnitzlers ihren Sinn verloren. Keine Brücke
führt von den Sentiments eines von allen Gütern über¬
sättigten Luxusdaseins zur Sehnsucht der verarmten, ver¬
prügelten Menschlichkeit von 1922. Die völlige Gegen¬
wartsfremdheit des äußeren und inneren Milieus von
Schnitzlers Dichtung konnte nicht schärfer und peinlicher ent¬
hüllt werden, als es durch Köxtiers minuziöse Aufzählung
all ihrer Bestandteile geschieht. Die Belanglosigkeit einer
Problematik, die unausgesetzt'forschte, was alles geschehen
könne, damit ein außerehelicher Beischlaf zustande käme,
und was alles nach einem solchen geschehen könne, die ganze
Leere dieser Liebelei und Todelei, die weder zu absoluter
Lust noch zur Ehrfurcht vor dem Sein jemals den Mut
ffand, ist in diesen Gestalten und Problemen zu einer wahr¬
haft erschreckenden danse macabre vereinigt. Dennoch
mußte dieses Buch geschrieben werden, von einer Seite,
die der Dichtung liebevoll gegenübersteht. Es gibt Sach¬
liches, zumeist in Zitaten und damit ein Kompendium des
Weltgefühls, dem ein Weltuntergang den Garaus gemacht
hat. Er hat auch in der Kunst reinen Tisch geschaffen und
zihre Empfänger geschieden in solche, die für ihr Geld
kitzelnde Stofflichkeit eintauschen wollen und solche, die über
sich selbst hinausgesteigert zu werden verlangen. Für jene
sist aus dem Zusammenbruch der Schnitzlerwelt der Reigen
gerettet; diese aber stehen einer leichtsinnigen Melancholie,
deren letzter Schluß — nach Körners eigenem Wort —
das: post coitum omne animal triste war, völlig fremd und
verständnislos gegenüber. Denn seit die armen Mensch¬
lein, die alles besaßen und darum auch den Luxus einer
Seele sich gönnen konnten, diese Seele unausgesetzt berochen,
beschmeckten und besprachen, hat sich die Welt so verkehrt,
daß beim Völser Weiher statt Hotels Kanonen standen und
die Jünglinge als erstes Erlebnis das Sterben erkannten,
aus diesem aber die brennende Sehnsucht nach einer Liebe,
die freilich ganz anders aussehen mußte, als der psychische
Erhibitionismus einer selbstverlorenen Gesellschaft.
Herbert Joh. Holz *
WWien
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otthdar
ADOLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAU
BERLIN SO. 16, RUNGESTR 22-24
Zeitung, Mittagsblatt
Achesser Frankfurt a. M.
S MAIIZ
Datum:
1
1
Neues Theater.
Schnitzlers 60. Geburtstag waren zwei Einakter neuein¬
studieft ##mnfüherschon im „Neuen Theater“ gesehen hat.
Diesmal hiite Robin Robert die Regie und bewies vor allem
an der Widergabe der beiden letzten Einakter, in wie ausgezeich¬
neter Spiesleiter er gerode für diese Art von Stücken ist. Da war
jede Stimmung, jedes Wort, jede Scowingung bedacht. Willig folg¬
ten die Spieler: Die stärkste Leistung des Abends Kurt Gerdes,
der in allen drei Akten die Hauptrolle svielte. Theatralisch am
eindrucksvollsten im „Grünen Kakadu“ als Henry. Schlicht vor¬
nehm, von bezwingender Männlichkeit in den Gefährten“. Aus
dem Kreise der übrigen Mitspieler und Mitspielerinnen müssen ge¬
nannt werden: Alice Rohde, Anny Reiter (prächtig in den
„Gefährten“), Fred Hennings, August Weber Alois
Großmann, Idse Almas, Peter Staudina
M. Geisenherner.
—
#
Literarieche Eeno
948
Berlin
11 5 MAIW22
Arthur Schnitzlers Gestalten und Probleme. Von
Josef Körner. Zürich=Leipzig=Wien 1921, Amalthea¬
Verlag. 266 S. M. 30,—
Knapp vor dem sechzigsten Geburtstage Arthur
Schnitz'ers gibt Körners Buch die erste systematische Über¬
sicht eines Wirkens, das jahrzehntelang im vordersten
Treffen des deutschen Schrifttums gestanden hat. In
zwölf Abschnitten sind mit wahrem Bienenfleiße sämtliche
Motive vorgeführt, aus denen Schnitzlers Menschen und
Situationen zusammengesetzt erscheinen. Der Betrachter
jübt sichtliche Zurückhaltung, setzt nur hie und da ein posi¬
tives Werturteil und läßt im allgemeinen einzig die Wärme
des Tones für sein Objekt sprechen. Dabei scheint es oft,
lals würde diese Liebe unbewußt verstärt von dem Gefühl,
daß hier eine dichterische Welt rettungslos der Vergangen¬
heit angehört. Würde Körner, der im Eingang eine nach
sorganischen Bedingungen forschende Literarhistorie schroff
zurückweist, sich tiefer mit dem Wesen österreichischer und
speziell wienerischer Lebens= und Dichtungsform beschäftigt
haben, es wäre ihm nicht unterlaufen, die Bedingungen
der jungwiener Literatur am Ausgang des 19. Jahrhunderts
aus innerpolitischen Zuständen abzuleiten. Die Konstruktion
eines „Vormärz mit liberalen Privilegien“ ist durchaus nicht
zu halten, denn das Wesen des österreichischen Vormärzes
ist eine geschlossene Volkseinheit, deren Lebensgefühl
klassenmäßig höchstens abschattiert, nicht aber zerspalten war.
Erst die nach 1848 einsetzende Zufuhr von fremdem Blut
und fremdem Intellekt bedingt das Aufkommen einer
liberalen Bourgeoisie, und die Reaktion des Antisemitismus
bedeutet nichts anderes als die österreichische Form des
sozialistischen Gedankens („den Sozialismus des dummen
Kerls“ nannte ihn ein wissender Österreicher). Vom Glück
und Ende der nach 1848 angelangten liberalen Bourgeoisie
müßte also ein Forscher ausgehen, um das Problem Schnitz¬
ler zu erkennen, vom Lebensgefühl eines in die Sinnen¬
landschaft des Kahlenberges geworfenen Intellektes, der in
der Dichtung die Verbindung beider antipodischer Kräfte
herzustellen sucht. Vermöge überragenden formalen Talen¬
tes wirkt das so Geschaffene, solange seine äußeren Lebens¬
zustände unverändert bleiben und die Gesellschaftsklasse,
der es entsprungen ist, sich am Leben erhält. Mit dem
Untergang der liberalen Bourgeoisie hat auch die Welt
Arthur Schnitzlers ihren Sinn verloren. Keine Brücke
führt von den Sentiments eines von allen Gütern über¬
sättigten Luxusdaseins zur Sehnsucht der verarmten, ver¬
prügelten Menschlichkeit von 1922. Die völlige Gegen¬
wartsfremdheit des äußeren und inneren Milieus von
Schnitzlers Dichtung konnte nicht schärfer und peinlicher ent¬
hüllt werden, als es durch Köxtiers minuziöse Aufzählung
all ihrer Bestandteile geschieht. Die Belanglosigkeit einer
Problematik, die unausgesetzt'forschte, was alles geschehen
könne, damit ein außerehelicher Beischlaf zustande käme,
und was alles nach einem solchen geschehen könne, die ganze
Leere dieser Liebelei und Todelei, die weder zu absoluter
Lust noch zur Ehrfurcht vor dem Sein jemals den Mut
ffand, ist in diesen Gestalten und Problemen zu einer wahr¬
haft erschreckenden danse macabre vereinigt. Dennoch
mußte dieses Buch geschrieben werden, von einer Seite,
die der Dichtung liebevoll gegenübersteht. Es gibt Sach¬
liches, zumeist in Zitaten und damit ein Kompendium des
Weltgefühls, dem ein Weltuntergang den Garaus gemacht
hat. Er hat auch in der Kunst reinen Tisch geschaffen und
zihre Empfänger geschieden in solche, die für ihr Geld
kitzelnde Stofflichkeit eintauschen wollen und solche, die über
sich selbst hinausgesteigert zu werden verlangen. Für jene
sist aus dem Zusammenbruch der Schnitzlerwelt der Reigen
gerettet; diese aber stehen einer leichtsinnigen Melancholie,
deren letzter Schluß — nach Körners eigenem Wort —
das: post coitum omne animal triste war, völlig fremd und
verständnislos gegenüber. Denn seit die armen Mensch¬
lein, die alles besaßen und darum auch den Luxus einer
Seele sich gönnen konnten, diese Seele unausgesetzt berochen,
beschmeckten und besprachen, hat sich die Welt so verkehrt,
daß beim Völser Weiher statt Hotels Kanonen standen und
die Jünglinge als erstes Erlebnis das Sterben erkannten,
aus diesem aber die brennende Sehnsucht nach einer Liebe,
die freilich ganz anders aussehen mußte, als der psychische
Erhibitionismus einer selbstverlorenen Gesellschaft.
Herbert Joh. Holz *
WWien