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goth Birthday
19
Volgtländischer Anzeiger“
Piszion (V.)
ge
Kunst und Wissenschaft.
Arthur Schnitzler.
Kein Literat hat in der letzten Zelt ein###che Popularität — allerdings
zweiselhafte Volkstümlichkeit — erlangt wie Arthur Schnitzler, der am
15. Mai seinenj60 Geburtstag beging. „Der Reigen“ hat sie ihm verschafft,
jenes scharf bi#te und ebenso heißblütig verteidigte Sittenbild (oder
Unsittenbild?) # Berlin lange Monate ausverkaufte Häuser machte. So
wunderlich## einem erscheinen, daß ein Teil des deutschen Volkes
diesem in Ainemtanzen Wesen nicht neuen, nicht originellen Werkchen nach¬
lief, während das deutsche Land von manch schweren inneren und verhäng¬
nievollen äußeren Erschütterungen heimgesucht wurde. Und es wäre nicht zu
vorstehen, wenn man nicht der alten Erfahrung ihre Berechtigung zuerkennte,
daß ein aus seinem Gleis geworfenes Volk willenlos von einem Extrem ins
andre verfällt. Was ist „Der Reigen"? Eine Fortsetzung, und dazu n
nicht einmal eine künstlerisch einwandfreie, des „Anatol“ der „Liebelei“
ist der alte, nur etwas modern frisierte, halb sentimentale, halb spöttische
Geist, der aus dem Werke spricht, ein Stück des Wienertums, das lockt, weil
es der schwereren nordischen Gemütsart fremd ist. Jene Sinnesart, die den
sie so
Rausch der beschwinaten Stunde preist und zugleich beklagt, daß
flüchtig ist und am Boden Wermut birgt. Liebe ist Rosenduft eines Augen¬
blicks, Treue — ein leerer Wahn, Moral gehört zum alten Eisen. Frauen¬
ehre? Des Weibes „Vergangenheit“ liegt in Fesseln des Vorurteils. Und:
„Wenn ich einer sage: Ich liebe dich, nur dich — so fühle ich nicht, daß ich
sie belüge, und wenn ich in der Nacht vorher am Besen einer anderen geruht
habe.“ Das ist der Grundton. auf den fast alle Kinder der Schnitzlerschen
Muse gestimmt sind: Süße. Müdigkeit, Wehmut, vielleicht noch ein bißchen
Weltverachtung, die den Spott gebiert. Eine Welt, der unse so fremd, die
Welt der „süßen Mädel“, mit einem Quentchen französischen Geistes.
Schnitzler entstammt einer Altwiener Familie, wurde Arzt und hatte so
Gelegenheit, hinter manche Kulisse zu sehen, die dazu geschaffen ist, gnädig
zu verhüllen. Als er mit 30 Jahren zum ersten Male dichterisch in die
Oeffentlichkeit trat, stellte sich ihm auch gleich der Erfolg zur Seite. Und er
blieb ihm, der die Untreue mit schillernden Farben malte, treu. „Liebelei“
und „Freiwild“, wie oft mögen sie aufgeführt worden sein? Und „Der grüne
Kakadu“ ist auch noch am Leben. Die andern: „Der Schleier der Beatriee“
Der einsame Weg“ „Komtesse Mizzi“ „Der junge Medardus“, „Das weite
Land“ und „Professor Bernhardi“, sind allerdings bald wieder im Dunkel
verschwunden. Zu großen Dingen reicht es bei ihm nicht recht; es bleibt bei
den „süßen Mädels“. Die scharfe Dialektik Schnitzlers ist für die Novelle wie
geschaffen, und so werden seine beiden novellistischen Schöpfungen „Sterben“
und „Leutnant Gustl“, in denen seelische Krisen behandelt werden, auch heute
noch gern gelesen und wohl auch ein besseres Schicksal haben als viele andere
seiner Werke, die den Weg zur Höhe nicht finden können, weil sie „kein
.
Höhengeist leitet
ga
TeMAlie
Theater und Konzerte.
∆ Kölner Schauspielhaus.
dekadenten,
Arthur Schnitzler, der Dichter der
müden, jung anLenen gestorbenen Wiener Literatur¬
jugend, ist am 15. Mai 60 Jahrealt-geworden. Nach den
vorangegangenen Reigen- Skandalen haben die litera¬
rischen Festredner es für rätlich gehalten, ihre Glück¬
wunschhanfe nicht zu hoch zu stimmen. Die Theater,
denen ein Bühnenvereinsbeschluß aufgibt, sechzigste Dich¬
tergeburtstage durch Aufführung eines Werkes des be¬
treffenden Dramatikers zu felern, haben es leicht, aus
dem ehedem so zugkräftigen Gesellschaftsdramenkreise
Schnitzlers eine Wahl nach Belieben zu treffen.
diesem stofflich eng begrenzten Dramenkreise ist ein
Problem das herrschende: die Geschlechterliebe. Leben ist!
Liebe, und die höchste Liebe die der Geschlechter; gegen
#ie hält kein Band, am wenigsten die Ehe. Das ist Schnitz¬
iers Moral eines ungezügelten Trieblebens.Ihr strebt in
seinen Novellen und Bühnenstücken alles zu, von der
grisettenhaften Liebebedürftigkeit der „süßen Mädel“ und
ihrer blasierten, verlebten Lebejünglinge im Anatol-Zyklust
bis zu der unverhüllten, zyrisch-naiven Lasterhäftigkeit
im Reigen. Wundern wir uns, zurückschauend, über die
Verheerungen, die das Gift solcher Moralbegriffe an un¬
serem Volkskörper anrichten maßte und in Gesetzgebung
und Sittlienkeitswertung noch weiterhin anzurichten sich
anschickt?
Von den am Kölner Schauspielhause als Schnitzler¬
Ehrung gebotenen drei an Wert und Stil ungleichen Ein¬
aktern Efteratur, Abschiedssouper und Der
Kakadent die letztgenannte „Groteske“, in
der die tranzosrsthé Revolution aus der Verbrecherkeller¬
perspektive gesehen ist, den stärksten Theatereinschlag.
Der Einfall, schlechtbezahlte Schmierenkomödianten zum
Kitzel eines adeligen Publikums allabendlich Schauer¬
szenen in einer Verbrecherkneipe improvisieren zu lassen,
bis schließlich Spiel und Wirklichkeit sich verwirren und
ein Leonkavalloscher Bajazzo-Fall mit der Erstürmung
der Bastille zusammentrifft, ist originell und theaterge¬
wandt ausgesialtet. Dr. Otto Liebschers Spielleitung hatte
in dem Hexensabbath der Groteske jeden auf den rechten
Platz gestellt, so daß sich ein stürmisch bewegtes Zu¬
sammnenspiel ergab. Besonders hervorgehoben seien der
meisterlich gespielte Henri von Hellmuth Pfund, der
Korths zynischer Wirt, der Strolch Grain von Hans Portz
und die im Tone etwas schwere Léocadie von Adele Schön¬
feld. Im ganzen wurde von der Komödiantengesellschaft
besser gespielt als von den Aristokraten, denen der leichte
Konversationston nicht recht glücken wollte.
In den vorangegangenen kleinen Lustspielen, die beide
bekannt sind, spielte Friedl Münzer die Annie im Ab¬
schiedssouper besser als Die im Stile etwas vergriffene
Margarete in der Literatar. Walter Korth, in Charakter¬
rollen öfter überzeugender als in komischen, gab einen
vortrefflich gezeichneten Gilbert und einen anregenden
Max (Literatur), Abmamt, als Anatol einen Lebejüngling
mit wenig Neigung für genaues Rollenstudium.
Anton Stehle.
goth Birthday
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Volgtländischer Anzeiger“
Piszion (V.)
ge
Kunst und Wissenschaft.
Arthur Schnitzler.
Kein Literat hat in der letzten Zelt ein###che Popularität — allerdings
zweiselhafte Volkstümlichkeit — erlangt wie Arthur Schnitzler, der am
15. Mai seinenj60 Geburtstag beging. „Der Reigen“ hat sie ihm verschafft,
jenes scharf bi#te und ebenso heißblütig verteidigte Sittenbild (oder
Unsittenbild?) # Berlin lange Monate ausverkaufte Häuser machte. So
wunderlich## einem erscheinen, daß ein Teil des deutschen Volkes
diesem in Ainemtanzen Wesen nicht neuen, nicht originellen Werkchen nach¬
lief, während das deutsche Land von manch schweren inneren und verhäng¬
nievollen äußeren Erschütterungen heimgesucht wurde. Und es wäre nicht zu
vorstehen, wenn man nicht der alten Erfahrung ihre Berechtigung zuerkennte,
daß ein aus seinem Gleis geworfenes Volk willenlos von einem Extrem ins
andre verfällt. Was ist „Der Reigen"? Eine Fortsetzung, und dazu n
nicht einmal eine künstlerisch einwandfreie, des „Anatol“ der „Liebelei“
ist der alte, nur etwas modern frisierte, halb sentimentale, halb spöttische
Geist, der aus dem Werke spricht, ein Stück des Wienertums, das lockt, weil
es der schwereren nordischen Gemütsart fremd ist. Jene Sinnesart, die den
sie so
Rausch der beschwinaten Stunde preist und zugleich beklagt, daß
flüchtig ist und am Boden Wermut birgt. Liebe ist Rosenduft eines Augen¬
blicks, Treue — ein leerer Wahn, Moral gehört zum alten Eisen. Frauen¬
ehre? Des Weibes „Vergangenheit“ liegt in Fesseln des Vorurteils. Und:
„Wenn ich einer sage: Ich liebe dich, nur dich — so fühle ich nicht, daß ich
sie belüge, und wenn ich in der Nacht vorher am Besen einer anderen geruht
habe.“ Das ist der Grundton. auf den fast alle Kinder der Schnitzlerschen
Muse gestimmt sind: Süße. Müdigkeit, Wehmut, vielleicht noch ein bißchen
Weltverachtung, die den Spott gebiert. Eine Welt, der unse so fremd, die
Welt der „süßen Mädel“, mit einem Quentchen französischen Geistes.
Schnitzler entstammt einer Altwiener Familie, wurde Arzt und hatte so
Gelegenheit, hinter manche Kulisse zu sehen, die dazu geschaffen ist, gnädig
zu verhüllen. Als er mit 30 Jahren zum ersten Male dichterisch in die
Oeffentlichkeit trat, stellte sich ihm auch gleich der Erfolg zur Seite. Und er
blieb ihm, der die Untreue mit schillernden Farben malte, treu. „Liebelei“
und „Freiwild“, wie oft mögen sie aufgeführt worden sein? Und „Der grüne
Kakadu“ ist auch noch am Leben. Die andern: „Der Schleier der Beatriee“
Der einsame Weg“ „Komtesse Mizzi“ „Der junge Medardus“, „Das weite
Land“ und „Professor Bernhardi“, sind allerdings bald wieder im Dunkel
verschwunden. Zu großen Dingen reicht es bei ihm nicht recht; es bleibt bei
den „süßen Mädels“. Die scharfe Dialektik Schnitzlers ist für die Novelle wie
geschaffen, und so werden seine beiden novellistischen Schöpfungen „Sterben“
und „Leutnant Gustl“, in denen seelische Krisen behandelt werden, auch heute
noch gern gelesen und wohl auch ein besseres Schicksal haben als viele andere
seiner Werke, die den Weg zur Höhe nicht finden können, weil sie „kein
.
Höhengeist leitet
ga
TeMAlie
Theater und Konzerte.
∆ Kölner Schauspielhaus.
dekadenten,
Arthur Schnitzler, der Dichter der
müden, jung anLenen gestorbenen Wiener Literatur¬
jugend, ist am 15. Mai 60 Jahrealt-geworden. Nach den
vorangegangenen Reigen- Skandalen haben die litera¬
rischen Festredner es für rätlich gehalten, ihre Glück¬
wunschhanfe nicht zu hoch zu stimmen. Die Theater,
denen ein Bühnenvereinsbeschluß aufgibt, sechzigste Dich¬
tergeburtstage durch Aufführung eines Werkes des be¬
treffenden Dramatikers zu felern, haben es leicht, aus
dem ehedem so zugkräftigen Gesellschaftsdramenkreise
Schnitzlers eine Wahl nach Belieben zu treffen.
diesem stofflich eng begrenzten Dramenkreise ist ein
Problem das herrschende: die Geschlechterliebe. Leben ist!
Liebe, und die höchste Liebe die der Geschlechter; gegen
#ie hält kein Band, am wenigsten die Ehe. Das ist Schnitz¬
iers Moral eines ungezügelten Trieblebens.Ihr strebt in
seinen Novellen und Bühnenstücken alles zu, von der
grisettenhaften Liebebedürftigkeit der „süßen Mädel“ und
ihrer blasierten, verlebten Lebejünglinge im Anatol-Zyklust
bis zu der unverhüllten, zyrisch-naiven Lasterhäftigkeit
im Reigen. Wundern wir uns, zurückschauend, über die
Verheerungen, die das Gift solcher Moralbegriffe an un¬
serem Volkskörper anrichten maßte und in Gesetzgebung
und Sittlienkeitswertung noch weiterhin anzurichten sich
anschickt?
Von den am Kölner Schauspielhause als Schnitzler¬
Ehrung gebotenen drei an Wert und Stil ungleichen Ein¬
aktern Efteratur, Abschiedssouper und Der
Kakadent die letztgenannte „Groteske“, in
der die tranzosrsthé Revolution aus der Verbrecherkeller¬
perspektive gesehen ist, den stärksten Theatereinschlag.
Der Einfall, schlechtbezahlte Schmierenkomödianten zum
Kitzel eines adeligen Publikums allabendlich Schauer¬
szenen in einer Verbrecherkneipe improvisieren zu lassen,
bis schließlich Spiel und Wirklichkeit sich verwirren und
ein Leonkavalloscher Bajazzo-Fall mit der Erstürmung
der Bastille zusammentrifft, ist originell und theaterge¬
wandt ausgesialtet. Dr. Otto Liebschers Spielleitung hatte
in dem Hexensabbath der Groteske jeden auf den rechten
Platz gestellt, so daß sich ein stürmisch bewegtes Zu¬
sammnenspiel ergab. Besonders hervorgehoben seien der
meisterlich gespielte Henri von Hellmuth Pfund, der
Korths zynischer Wirt, der Strolch Grain von Hans Portz
und die im Tone etwas schwere Léocadie von Adele Schön¬
feld. Im ganzen wurde von der Komödiantengesellschaft
besser gespielt als von den Aristokraten, denen der leichte
Konversationston nicht recht glücken wollte.
In den vorangegangenen kleinen Lustspielen, die beide
bekannt sind, spielte Friedl Münzer die Annie im Ab¬
schiedssouper besser als Die im Stile etwas vergriffene
Margarete in der Literatar. Walter Korth, in Charakter¬
rollen öfter überzeugender als in komischen, gab einen
vortrefflich gezeichneten Gilbert und einen anregenden
Max (Literatur), Abmamt, als Anatol einen Lebejüngling
mit wenig Neigung für genaues Rollenstudium.
Anton Stehle.