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6oth Birthdar
Weltrundschau: Artur Schnitzler
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gwälrend von Todesgrauen geschüttelt werden, daß es überhaupt
keine Männer gibt, die die Idee höher stellen als das eigene
Leben. Ja, Schnitzler, der Skeptiker, leugnet manchmal geradezu
das Bestehen dieser Ideen, die größer sind als das Ich. Da¬
durch verrennt er sich in einen ethischen Tiefstand, der zur
Höhe seiner Kunst in krassem Widerspruch steht. Sucht er
einmal, einem Besinnen folgend, Ideen darzustellen, die das
Individuum überwinden, so versagt er. „Der junge Medardus“
und „Professor Bernhardi“ gehören zu seinen allerschwächsten
Schöpfungen. Vielleicht kann er hier wieder durch sein im
Wienertum begründetes Altösterreichertum entschuldigt werden.
In unserer von Ideen übervollen Zeit, die sich oft allzu
laut gebärden, steht der seine, vornehme, leise Mensch als ein
Einsamer, dem es nie gegeben war, energisch „ja“ oder „nein“
zu sagen. Er, der ein „führender“ Dichter ist, hat keine einzige
Eigenschaft des Führers, der einen, wenn auch nur literarischen,
Heerbann befehligt. Aber er wird immer, heute mehr denn je,
eine treue Gemeinde stiller Menschen besitzen, die Leben und
Gewohnheiten des alten Regimes in die neue proletarische Zeit
hinübergerettet haben. Und auch die zünftige Literaturgeschichte
wird ihm einen ehrenvollen Platz bewahren müssen. Denn er
hat in einer Zeit, da das deutsche Dichterroß, scheu ge¬
worden, viele schöne Blumen in unserem Garten zertreten
wollte, sein redlich Teil dazu beigetragen, es auf gefahrlose
Wege zurückzuzwingen. Und die Jungen, die heute sich an¬
schicken, ein noch gefährlicheres und noch weniger nötiges Ex¬
periment mit dem armen Tier zu wagen, sollten nicht ver¬
gessen, daß unser Sechziger in reichem Maße das besitzt, was
ihnen versagt ist: Grazie, Geschmack, ein sicheres Gefühl für
die Grenzen des ästhetisch Erlaubten und Achtung vor der
Die 1000=Jahrfeier der Stadt Quedlinburg. Am 22. April d. J.
Sprache, die er in seinem Lebenswerk zu eigenartiger, vor¬
feierte die Stadt Quedlinburg ihr 1000jähriges Jubiläum, das
zwei Tage die Stadt mit Festfreude erfüllte. Im Mittelvunkt des
nehmer Höhe gebildet hat.
reichhaltigen Festprogramms stand ein Festzug, in dem Handel
und Gewerbe Quedlinburgs zum Teil historisch getreu, zum Teil
900000000000000000000000000000000000000000000000000000
huworistisch zur Darstellung kamen. Die Stadt stützt sich bei dem
Zeiwunkt ihrer Jubelfeier auf eine im Staatsarchiv zu Münster
befindliche Urkunde, die Heinrich I., den man den Begründer des §
Deutschen Reiches nennen kann, am 22. April 922 in „Quitilinga¬
burg“ unterzeichnet hat. Dieser Ort Quitilingaburg war eine ur¬
alte Siedlung, bei der der damalige Herzog Heinrich und sein Haus
große und reiche Besitzungen hatte, später erhielt ihn seine Ge¬
mahlin als Wittum. Auch Otto I. und seine Nachfolger verweilten 8
oft in der Stadt. 1237 kam Quedlinburg unter die Schirmherr= 8
schaft der Grafen von Reinstein, begab sich 1326 in den Schutz
des Bischofs von Halberstadt und mußte 1477 die Oberherrschaft 2
von Kursachsen anerkennen. Die Stadt besitzt eine Reihe künst¬ L
lerisch wertvoller Bauwerke und Denkmäler; die Industrie hat ver¬
hältnismäßig spät Fuß gefaßt, genießt heute aber über Deutschland 8
hinaus Ansehen. Eine besondere Bedeutung haben der Quedlinburger
Gartenbau, Samenhandel und die Blumenzucht. Phet. N. Sennecke. 2
5o000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000
am eifrigsten dagegen protestieren müssen. Nicht aus morg¬
lischen, nur aus künstlerischen Gründen.
Ein Hauch von Fäulnis haftet wohl allen Schnitzlerschen
2
Menschen an. Seine Gesellschaft ist revolutionsreif. Er aber
ist nicht der Prediger in der Wüste, der mahnend darauf hin¬
weist, die Darstellung der Verworfenheit ist ihm realistisch¬
künstlerischer Selbstzweck. Nur wo der Hinweis auf eine Sint¬
flut historisch gegeben war, findet er sich. So in dem Einakter
„Der grüne Kakadu“, darin in meisterhafter Prägnanz Ursache
und Entstehen der großen französischen Revolution geformt
wurden. Dieses kleine Drama und die Offiziersnovelle „Leut¬
nant Gustl“ scheinen mir die Höhepunkte des Schnitzlerschen
Schaffens zu sein. In der letzteren betrachtet ein junger Mensch
eine an sich richtige Idee im Spiegel der eigenen Borniertheit.
8
Schnitzler gießt hier allerdings das Kind mit dem Bade aus
und macht sich über die Idee als solche lustig. Wenn wir
§ Pelznenheiten. In Leipzig, dem Hauptnunkt des deutschen Pelz¬
heute auch Schnitzlers hohem Können alle Verehrung bezeugen,
handels, fand in Verbindung mit der Öster=Rauchwarenmesse eine
gegen seine ethische Anfechtbarkeit dürfen wir nicht blind sein.
Pelimodenschau statt, auf der auserlesene kostbare Neuheiten ge¬
zeigt wurden. Unter den ausgestellten Pelten, die zu einem nicht
Gewiß war es verdienstvoll von ihm, mit den Heldenphrasen
geringen Teil taum für den inländischen Bedarf erreichbar sind,
aufzuräumen, die uns einreden wollten, daß das Sterben ein
sielen die hier im Bilde wiedergegebenen auf: links ein Maulwurfs¬
mantel mit Fransen, der mit Brokatseide gefüttert und mit Chiffon¬
Vergnügen sei. Die Unerbittlichkeit des Todes, der Tote von
gewebe verschleiert ist, rechts ein modefarbener Automantel aus
Lebenden endgültig trennt, hat der Arzt in einigen grandiosen
Fohlen mit Opossumkragen. Phot. John Grandenz.
Szenen geschildert. Aber er verallgemeinert hier mit Unrecht
So000000000000000000000000000000000000000000000000008
und schließt daraus, daß die Menschen seiner Gesellschaft immer¬
6oth Birthdar
Weltrundschau: Artur Schnitzler
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gwälrend von Todesgrauen geschüttelt werden, daß es überhaupt
keine Männer gibt, die die Idee höher stellen als das eigene
Leben. Ja, Schnitzler, der Skeptiker, leugnet manchmal geradezu
das Bestehen dieser Ideen, die größer sind als das Ich. Da¬
durch verrennt er sich in einen ethischen Tiefstand, der zur
Höhe seiner Kunst in krassem Widerspruch steht. Sucht er
einmal, einem Besinnen folgend, Ideen darzustellen, die das
Individuum überwinden, so versagt er. „Der junge Medardus“
und „Professor Bernhardi“ gehören zu seinen allerschwächsten
Schöpfungen. Vielleicht kann er hier wieder durch sein im
Wienertum begründetes Altösterreichertum entschuldigt werden.
In unserer von Ideen übervollen Zeit, die sich oft allzu
laut gebärden, steht der seine, vornehme, leise Mensch als ein
Einsamer, dem es nie gegeben war, energisch „ja“ oder „nein“
zu sagen. Er, der ein „führender“ Dichter ist, hat keine einzige
Eigenschaft des Führers, der einen, wenn auch nur literarischen,
Heerbann befehligt. Aber er wird immer, heute mehr denn je,
eine treue Gemeinde stiller Menschen besitzen, die Leben und
Gewohnheiten des alten Regimes in die neue proletarische Zeit
hinübergerettet haben. Und auch die zünftige Literaturgeschichte
wird ihm einen ehrenvollen Platz bewahren müssen. Denn er
hat in einer Zeit, da das deutsche Dichterroß, scheu ge¬
worden, viele schöne Blumen in unserem Garten zertreten
wollte, sein redlich Teil dazu beigetragen, es auf gefahrlose
Wege zurückzuzwingen. Und die Jungen, die heute sich an¬
schicken, ein noch gefährlicheres und noch weniger nötiges Ex¬
periment mit dem armen Tier zu wagen, sollten nicht ver¬
gessen, daß unser Sechziger in reichem Maße das besitzt, was
ihnen versagt ist: Grazie, Geschmack, ein sicheres Gefühl für
die Grenzen des ästhetisch Erlaubten und Achtung vor der
Die 1000=Jahrfeier der Stadt Quedlinburg. Am 22. April d. J.
Sprache, die er in seinem Lebenswerk zu eigenartiger, vor¬
feierte die Stadt Quedlinburg ihr 1000jähriges Jubiläum, das
zwei Tage die Stadt mit Festfreude erfüllte. Im Mittelvunkt des
nehmer Höhe gebildet hat.
reichhaltigen Festprogramms stand ein Festzug, in dem Handel
und Gewerbe Quedlinburgs zum Teil historisch getreu, zum Teil
900000000000000000000000000000000000000000000000000000
huworistisch zur Darstellung kamen. Die Stadt stützt sich bei dem
Zeiwunkt ihrer Jubelfeier auf eine im Staatsarchiv zu Münster
befindliche Urkunde, die Heinrich I., den man den Begründer des §
Deutschen Reiches nennen kann, am 22. April 922 in „Quitilinga¬
burg“ unterzeichnet hat. Dieser Ort Quitilingaburg war eine ur¬
alte Siedlung, bei der der damalige Herzog Heinrich und sein Haus
große und reiche Besitzungen hatte, später erhielt ihn seine Ge¬
mahlin als Wittum. Auch Otto I. und seine Nachfolger verweilten 8
oft in der Stadt. 1237 kam Quedlinburg unter die Schirmherr= 8
schaft der Grafen von Reinstein, begab sich 1326 in den Schutz
des Bischofs von Halberstadt und mußte 1477 die Oberherrschaft 2
von Kursachsen anerkennen. Die Stadt besitzt eine Reihe künst¬ L
lerisch wertvoller Bauwerke und Denkmäler; die Industrie hat ver¬
hältnismäßig spät Fuß gefaßt, genießt heute aber über Deutschland 8
hinaus Ansehen. Eine besondere Bedeutung haben der Quedlinburger
Gartenbau, Samenhandel und die Blumenzucht. Phet. N. Sennecke. 2
5o000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000
am eifrigsten dagegen protestieren müssen. Nicht aus morg¬
lischen, nur aus künstlerischen Gründen.
Ein Hauch von Fäulnis haftet wohl allen Schnitzlerschen
2
Menschen an. Seine Gesellschaft ist revolutionsreif. Er aber
ist nicht der Prediger in der Wüste, der mahnend darauf hin¬
weist, die Darstellung der Verworfenheit ist ihm realistisch¬
künstlerischer Selbstzweck. Nur wo der Hinweis auf eine Sint¬
flut historisch gegeben war, findet er sich. So in dem Einakter
„Der grüne Kakadu“, darin in meisterhafter Prägnanz Ursache
und Entstehen der großen französischen Revolution geformt
wurden. Dieses kleine Drama und die Offiziersnovelle „Leut¬
nant Gustl“ scheinen mir die Höhepunkte des Schnitzlerschen
Schaffens zu sein. In der letzteren betrachtet ein junger Mensch
eine an sich richtige Idee im Spiegel der eigenen Borniertheit.
8
Schnitzler gießt hier allerdings das Kind mit dem Bade aus
und macht sich über die Idee als solche lustig. Wenn wir
§ Pelznenheiten. In Leipzig, dem Hauptnunkt des deutschen Pelz¬
heute auch Schnitzlers hohem Können alle Verehrung bezeugen,
handels, fand in Verbindung mit der Öster=Rauchwarenmesse eine
gegen seine ethische Anfechtbarkeit dürfen wir nicht blind sein.
Pelimodenschau statt, auf der auserlesene kostbare Neuheiten ge¬
zeigt wurden. Unter den ausgestellten Pelten, die zu einem nicht
Gewiß war es verdienstvoll von ihm, mit den Heldenphrasen
geringen Teil taum für den inländischen Bedarf erreichbar sind,
aufzuräumen, die uns einreden wollten, daß das Sterben ein
sielen die hier im Bilde wiedergegebenen auf: links ein Maulwurfs¬
mantel mit Fransen, der mit Brokatseide gefüttert und mit Chiffon¬
Vergnügen sei. Die Unerbittlichkeit des Todes, der Tote von
gewebe verschleiert ist, rechts ein modefarbener Automantel aus
Lebenden endgültig trennt, hat der Arzt in einigen grandiosen
Fohlen mit Opossumkragen. Phot. John Grandenz.
Szenen geschildert. Aber er verallgemeinert hier mit Unrecht
So000000000000000000000000000000000000000000000000008
und schließt daraus, daß die Menschen seiner Gesellschaft immer¬