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box 39/3
d
GOth BITEHANY
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zu scheiden; vor einer geistigen Einstellung, die derjenigen von 1890
teils fremö, teils ablehnend gegenübersteht, scheint in der Tat manches
zu bleichen, zu wanken, zu schrumpfen, vieles aber besteht in Leucht¬
kraft, Schönheit und Tiefe vor der unerbittlichen und unaufhörlichen
Prüfung der Jahrzehnte.
Die Dichterwelten Hauptmanns und Schnitzlers liegen freilich
trotz ihrer Gleichzeitigkeit in so verschiedenen Sphären, daß auf den
folgenden Seiten darauf verzichtet sei, sie unausgesetzt vergleichend
im Ruge zu behalten.
Der Naturalismus der achtziger Jahre hat Hauptmann aus der
Taufe gehoben und nimmt dieses Patenkind literarisch für sich in
Anspruch. Insoweit mit Recht, als er ihn befruchtet, seine Entwick¬
lung sicherlich beschleunigt, seiner mehr tastenden als zupackenden
Persönlichkeit den Mut zu sich selber erleichtert und die Resonnanz
nach außen verschafft hat. Hauptmann hatte damals den unschätz¬
baren Vorteil, nicht gegen, sondern mit dem Wind des Zeitwillens
fahren zu dürfen. Der rechte Mann kam zur rechten Stunde.
Aber das Postulat des Naturalismus stammte aus ganz andern
Regionen als die naturalistische Anlage dessen, der als der deutsche
Erfüller nun auf den Schild gehoben wurde. Naturalismus war der
Wille der materialistisch=naturwissenschaftlichen Weltauffassung und
der zivilisatorischen Weltbeschaffenheit, die sich in jenen Jahrzehnten
schon durchgesetzt hatten, den angemessenen Ausdruck in den Künsten
zu verschaffen. Mit Zielsetzungen aber, mit Prinzipien, mit „Ismen“.
hat Hauptmann immer auffällig — fast darf man sagen erfreulich —
wenig zu tun gehabt. Aus Naturnähe, aus Natürlichkeit ist er
Naturalist. Die verstandesmäßig aufgestellten, von Vielen experimentell
versuchten Thesen hat er gefühlsmäßig erfüllt, und darum ohne die
letzte tötliche Folgerichtigkeit, sondern in den vom künstlerischen
Takt gesteckten Grenzen. Sein Schaffen hat überhaupt nichts mit
Rezepten, nicht einmal mit planmäßiger Architektonik zu tun, es
gleicht einem organischen Wachsenlassen, einem vegetativen Werden.
die Hauptgefahr des modernen Künstlertums hatte dieser ganz
aus der Lebenssphäre und dem Seelischen schöpfende Dichter nie
zu vermeiden, ja, dieser vollströmenden Doppelkraft ist seine Geistig¬
keit kaum ebenbürtig. Es bildet, es gestaltet beständig in ihm, er
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GOth BITEHANY
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zu scheiden; vor einer geistigen Einstellung, die derjenigen von 1890
teils fremö, teils ablehnend gegenübersteht, scheint in der Tat manches
zu bleichen, zu wanken, zu schrumpfen, vieles aber besteht in Leucht¬
kraft, Schönheit und Tiefe vor der unerbittlichen und unaufhörlichen
Prüfung der Jahrzehnte.
Die Dichterwelten Hauptmanns und Schnitzlers liegen freilich
trotz ihrer Gleichzeitigkeit in so verschiedenen Sphären, daß auf den
folgenden Seiten darauf verzichtet sei, sie unausgesetzt vergleichend
im Ruge zu behalten.
Der Naturalismus der achtziger Jahre hat Hauptmann aus der
Taufe gehoben und nimmt dieses Patenkind literarisch für sich in
Anspruch. Insoweit mit Recht, als er ihn befruchtet, seine Entwick¬
lung sicherlich beschleunigt, seiner mehr tastenden als zupackenden
Persönlichkeit den Mut zu sich selber erleichtert und die Resonnanz
nach außen verschafft hat. Hauptmann hatte damals den unschätz¬
baren Vorteil, nicht gegen, sondern mit dem Wind des Zeitwillens
fahren zu dürfen. Der rechte Mann kam zur rechten Stunde.
Aber das Postulat des Naturalismus stammte aus ganz andern
Regionen als die naturalistische Anlage dessen, der als der deutsche
Erfüller nun auf den Schild gehoben wurde. Naturalismus war der
Wille der materialistisch=naturwissenschaftlichen Weltauffassung und
der zivilisatorischen Weltbeschaffenheit, die sich in jenen Jahrzehnten
schon durchgesetzt hatten, den angemessenen Ausdruck in den Künsten
zu verschaffen. Mit Zielsetzungen aber, mit Prinzipien, mit „Ismen“.
hat Hauptmann immer auffällig — fast darf man sagen erfreulich —
wenig zu tun gehabt. Aus Naturnähe, aus Natürlichkeit ist er
Naturalist. Die verstandesmäßig aufgestellten, von Vielen experimentell
versuchten Thesen hat er gefühlsmäßig erfüllt, und darum ohne die
letzte tötliche Folgerichtigkeit, sondern in den vom künstlerischen
Takt gesteckten Grenzen. Sein Schaffen hat überhaupt nichts mit
Rezepten, nicht einmal mit planmäßiger Architektonik zu tun, es
gleicht einem organischen Wachsenlassen, einem vegetativen Werden.
die Hauptgefahr des modernen Künstlertums hatte dieser ganz
aus der Lebenssphäre und dem Seelischen schöpfende Dichter nie
zu vermeiden, ja, dieser vollströmenden Doppelkraft ist seine Geistig¬
keit kaum ebenbürtig. Es bildet, es gestaltet beständig in ihm, er