VII, Verschiedenes 10, Antisemitismus, Seite 7

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0. Antisenitism
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22. Jahrg.
AUGUST 1932
Nr. 8
Antisemitismus und deutsche Kultur
Von Rudolf Kayser
Zivilisation ist die Vermenschlichung der Völker in
alten ethischen, religiösen und geistigen Kräfte des jü¬
ihren äußeren Einrichtungen und der darauf Bezug haben¬
dischen Wesens einströmen zu lassen. Diese Selbst-Eman¬
den inneren Gesinnung. Kultur fügt dieser Veredelung
zipation bedeutet also die Befreiung des edelsten Juden¬
des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst
hinzu.
Wilhelm von Humboldt.
tums zur schöpferischen Anteilnahme am Lebendes
Landes und der Zeit. Während die staatsbürgerliche
I.
Emanzipation die Befreiung von alten Fesseln ist, stellt
Das 19. Jahrhundert ist das Zeitalter der Emanzi¬
die Selbst-Emanzipation die Befreiung zu neuen Zielen
pation, wie das 18. Jahrhundert das Zeitalter der Auf¬
dar.
klärung ist. Diese Emanzipation vollzieht sich auf allen
An beiden Emanzipationen entzündet sich der Anti¬
Lebensgebieten mit großer Leidenschaft. Am Ende steht
semitismus. Die staatsbürgerliche und soziale Gleich¬
die Uberzeugung einer wirklichen Überlegenheit gegen¬
berechtigung ist allen Anhängern der alten ständischen
über den früheren Zeitaltern, die im Schatten trüber
Oreinung ein Dorn im Auge; denn'sie bedeutet die Be¬
Vorurteile und tiefer Unfreiheit gelebt hatten und sich
seitigung eines der ältesten, gewohntesten und liebsten
der hohen Aufgabe der Vermenschlichung und Befreiung
Privilegien: deuden, der im Ghetto wie in einem Käfig
dher Völker in ihren Einrichtungen und Gesinnungen nicht
Veingesperrt lebt, verächten und bgleidigen zu durien.
bewußt waren. Mit welcher Verachtung spricht man im
Wie der Aristokrat auf den Bürger, so sehen Aristokraten
19. Jahrhundert vom „dunklen Mittelalter“: da in ihm
und Bürger auf den Juden herab, der im Dunkel lebt
Aberglauben, Hexenprozesse, Folter und Glaubenskriege
und nur verachtete Berufe ausüben darf. Selbst Karl
herrschten. Für den Menschen des 19. Jahrhunderts, ist
Marx, der bei seinem Befreiungskampf für die Arbeiter¬
das Mittelalter eine so überwundene Vergangenheit, daß
schaft vom tiefsten religiösen Ethos beseelt ist, verwech¬
er die Großtaten des mittelalterlichen Geistes darüber
selt das Judentum mit dem Shylokgeist, der erst das
fast vergißt. Das Zeitalter der Emanzipation will den
Produkt des Ghettos ist. In seinem Haß gegen die Macht
Geschichtsprozeß der Befreiung vollenden, wie er mit der
des Geldes, die gerade in dieser Zeit des Frühkapitalismus
Renaissance und ihrem individualistischen Glauben be¬
immer größer wurde, verstieg er sich bis zu der Behaup¬
gonnen und sich dann als die immer mehr wachsende,
tung: „Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als
als die umfassende Befreiung des nationalen, religiösen,
die Christen zu Juden geworden sind“, Ein Antisemitis¬
moralischen und sozialen Lebens fortgesetzt hat.
mus aber, der sich auf diese Reste der Ghettovergangen¬
Zu dieser umfassenden Befreiung gehört auch die
heit stützt, statt zu erkennen, daß die wahre Emanzi¬
pation sie beseitigen wird und muß, ist — nach einem
Judenemanzipation am Beginn des 19. Jahrhunderts.
Worte von Engels — der Sozialismus der dummen Kerle.
Sie bedeutet Doppeltes: sowohl die staatsbürgerliche
Dieser Antisemitismus gilt also nicht der Rasse und nicht
Gleichstellung wie auch die jüdische Selbst-Emanzipation.
der Religion, sondern den häßlichen Folgeerscheinungen
Beide ergeben ein völlig neues Bild des jüdischen Lebens.
eines sozialen Schicksals, das erst durch die vollzogene
Durch die staatsbürgerliche Gleichstellung (die allerdings
Emanzipation gewandelt werden kann und zum guten
in der Monarchie praktisch nie völlig durchgeführt wurde)
Teile auch gewandelt worden ist. Bereits heute — wäh¬
wird der Jude gleichberechtigtes Mitglied des gesell¬
rend einer furchtbaren Renaissance des Antisemitismus
schaftlich-politischen Verbandes, den der Staat darstellt.
— erleben wir es, daß dieser soziale Antisemitismus, der
Man weiß, wie gerade in der ersten Zeit der Emanzipation
gegen die „jüdische Geldgesinnung“ ankämpft, zwar
der Jude bestrebt ist, diese Gleichstellung möglichst in
keineswegs verschwunden ist, aber doch zurücktritt hinter
völlige Gleichheit mit seinen Mitbürgern zu verwandeln.
dem Kampf mit entgegengesetztem Vorzeichen: dem
Vollständige Assimilation, wie sie sich in der vor hundert
Kampf gegen den „jüdischen“ Marxismus, Sozialismus
Jahren herrschenden Taufepidemie zeigt, wurde das mi߬
und Kommunismus. Wenn der Jude also nicht mehr
verstandene Ziel dieser Emanzipation. Das andere Ziel
ausschließlich die Verkörperung brutaler Geldgesinnung
aber ist die Uberwindung aller engen Mauern, die die
ist, sondern auch der Führer im Kampf gegen sie, so ist
Unfreiheit der früheren Jahrhunderte um die Juden
er schließlich nicht mehr der selbe Jude, den der junge
gebaut hatte. Es herrscht der Wunsch, Teilhaher des
lebendigen Geistes der neuen Zeit zu sein und in ihn die Marx meinte, als er erklärte: „Die Emanzipation vom