VII, Verschiedenes 10, Antisemitismus, Seite 8

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0. Anfisenitien

Susanne Carvallo-Schülein
Jacob Wassermann
(Original im Besitz der Kunstsammlung der Jüdischen Gemeinde, Berlin)
Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen
Judentum, wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit.“
Diese Selbstemanzipation wurde von den besten
Juden des 19. und des 20. Jahrhunderts gefördert und
vollzogen. Alle großen geistigen Leistungen jüdischer
Menschen in dieser Zeit beweisen es. Je weiter dieser
Prozeß fortschreitet und je weiter das Judentum sich
aktiv am schöpferischen Aufbau des Jahrhunderts betei¬
ligt, desto mehr muß ein Antisemitismus zurückgehen,
der seine Argumente und Waffen aus einer Zeit bezicht,
die dieser Selbstemanzipation voranging. Gewiß, man
nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau. Man verall¬
gemeinert (und tut es hoch heute), nimmt den Geldjuden,
wo immer er auftritt, für den Juden schlechthin und
übersieht geflissentlich den neuen schöpferischen Anteil
der Juden am öffentlichen und am geistigen Leben.
Aber ein anderer Antisemitismus bereitet sich vor.
II.
Dieser Antisemitismus stützt sich nicht auf religiöse
Gründe (die überhaupt seit dem Mittelalter kaum eine
Rolle spielen) und auch nicht mehr auf soziale Ver¬
achtung und sozialen Kampf. Am Ende des 19. Jahr¬
hunderts entstcht eine neue Ideologie (sie ist nicht
s0 neu, wie sie scheint), die sich auf die Ideen von
Nation, Volkstum und Rasse aufbaut und diesen
echwierigsten Begriffen der Geschichte einen mystisch¬
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romantischen Charakter gibt, dessen ein¬
zige faßbare Wirklichkeit im Kampf gegen
das Judentum bestcht. Statt Wesen und
Idee des Deutschtums aus der lebendi¬
gen Erfahrung und den Erinnerungen der
Geschichte zu erkennen, konstruiert man
Begriffe der Nationalität und der Rasse,
die zwar keinen konkreten Inhalt haben,
dafür aber die Juden bewußt aus der Ge¬
meinschaft der deutschen Nation aus¬
schließen. Man erfindet Rassen*) und Na¬
tionen, die es in Wirklichkeit überhaupt
nicht gibt. Denn die Juden sind das
Produkt ihrer Geschichte, eine Mischung
angeborener und erworbener Eigenschaften
und eine Einheit nur innerhalb der größten
Mannigfaltigkeit der jüdischen Typen, So
stützt sich der neue Antisemitismus, so grau¬
sam wirklich seine Kampfesmethoden und
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so furchtbar seine Opfer auch sind, nur auf
künstliche, konstruierte, von romantischer
Phantasie erfundene Begriffe.
Dieser Antisemitismus des Rassenwahns
ist eine deutsche Angelegenheit, auch wenn
zu seinen Vätern der Franzose Gobineau und
der Engländer H. St. Chamberlain gehören.
Er hat einen rein-germanischen Charakter
für den Deutschen aufgestellt, der den Tat¬
sachen der Geschichte, der geographischen
Lage Deutschlands in der Mitte Europas und
vor allem dem weltbürgerlichen Charakter
der deutschen Kulturentwicklung ganz wi¬
derspricht. Man weiß; daß ein Aitrec Rosen¬
berg, dieser „Kulturphilosoph“ der völ¬
kischen Bewegung, den Untergang jenes
Gemälde
überrassischen und übernationalen europä¬
ischen Geistes laut preist, dessen Ziel die
Humanisierung der Menschheit ist. Für ihn und seine
Gesinnungsfreunde tritt an die Stelle dieses im Welt¬
krieg besiegten Geistes der Glaube an das Blut, an die
Rasse, an die Nation. Die antisemitische Richtung
dieses Glaubens wird von Hitler unterstrichen: „Ein
rassereines Volk, das sich seines Blutes bewußt ist, wird
vom Juden niemals unterjocht werden können.“ Die
Kultur, die sich in Zukunft auf diesem Rasse-Glauben
aufbauen wird, soll ebenso im Gegensatz zum mittelalter¬
lich-christlichen Geist stehen wie zum Geist der Hu¬
manität und der Emanzipation. Die Verkünder dieser
Kultur betonen ihre Feindschaft gegen Vernunft und
Wissenschaft. Sie erwarten neues geistiges Leben aus
dem mystischen Versunkensein in die Geheimnisse des
Blutes, des Leibes, der Rasse, ohne aber das Rätsel zu
lösen, wie solche Triebkräfte, die zunächst doch nur rein
vernichtend sich äußern, je eine Kultur schaffen können.
Auch die vornehmsten, reinsten und von wirklichem
Idealismus erfüllten Führer dieser neuen Gesinnung
sind Antisemiten. Sie wenden sich gegen Christentum
(besonders das katholische) und gegen Humanismus,
die sie beide als undeutsch und vor allem als geschicht¬
lich erledigt empfinden. Den Juden aber empfinden
sie — nicht mit Unrecht — als Anhänger dieser beiden
*) „Unter den zivilisierten Völkern gibt es kaum noch natürliche
Rassen, sondern nur künstliche, durch geschichtliche Bedingungen
geschaffene Rassen“ (Gustave Le Bon, Les lois psychologiques de
l’évolution des peuples, 1894).