VII, Verschiedenes 10, Antisemitismus, Seite 55

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WIEN, I., WOLLZEILE 11
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Ausschnitt aus:
Berliner Börsen Zeitung,
7.12.1954
vom:
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heater.
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Wiener
Robert Hohnbaum
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von diesem Standpunkte aus betrachten, um sie zu ver¬
Mit der Behauptung, Wien sei eine Theaterstadt,
stehen.
ist natüvlich noch lange nicht der Beweis erbracht, daß sie
Das Burgtheater ist natürlich lange nicht mehr das,
eine Literaturstadt genannt werden dauf. Wenn der
was es in alter Zeit gewesen ist. Wohl besitzt es noch
alte Wiener Theatererinnerungen auffrischt, so spricht er
einige große Schauspieler, vor allem die Bleib¬
bezeichnen. Weise nicht von der und jener Grillparzer¬
treu, eine herrliche Künstlerin, die es verstand, Tradition
Aufführung, sondern er spricht von Baumeister, von Krastl,
mit moderner Kunst zu vereinen, Aslan, der, früher etwas
von der Wolter, von Mitterwurzer, von Kainz. Was
aufs Sentimental=Geckenhafte eingestellt, sich zum großen
diese Künstler darstellten, das hat er gewöhnlich schon ver¬
der
Charakterdarsteller entwickelt hat. Fred Hennings,
gessen, zumindest erscheint ihm das Dichterische belanglos
namentlich im Zawisch Rosenberg im „Ottokar“ sein
gegenüber der schauspielerischen Leistung. Immer ist es
Meisterstück geleistet hat, und dem man heute schon ruhig
den Mimen, den beliebten wenigstens, gut gegangen, sehr
den Mephisto anvertrauen könnte, Ewald Balser — in
selten den Dichtern. Wir kennen die Leiden Grillparzers,
letzter Zeit leider zu manchem Kitsch mißbraucht — Paul
wir wissen von Hebbels schwerem Geltungskampf, wir
Hartmann, der wahrhaft echte Held, und — bei Gott nicht
stehen helte — um vom Musikalischen zu sprechen, wo
zuletzt! der prachtvolle Hans Marr, der große Hauptmann¬
die Verhältnisse ganz ähnlich lagen — fassungslos der
Darsteller, der nur viel zu vornehm und natürlich ist, um
grauenvollen Verkennung Wagners, Bruckners und Wolfs
sich nach den Rollen zu drängen, die ihm eigentlich zu¬
gegenüber, die in eine Zeit fällt, da man den Sängern,
kämen, und die ihm dann weit weniger Berufene weg¬
Reichmann, der Lucca und Winckelmann die Pferde aus¬
schnappen.
spannte und sie zu Halbgöttern erhob. Das mag wohl mit
der naiven, einfachen Art des Wieners zusammenhängen.
Er ist Augenmensch, er hält sich an das Nächstliegende, den
Darsteller siehht er, der Denkumweg, der ihn zu dem un¬
sichtbaren Schöpfer führt, ist allzu unbequem und schwierig.
Wenn man das alte Burgtheater die erste deutsche
Nationalbühne nannte, so ist dieses Wort von unserem
heutigen perspektivischen Standpunkt aus sehr mit Vorsicht
auszusprechen. Sie war es den Darstellern nach, aber sie
war es nur einem kleinen Teil des Spielplans zu Folge.
Gewiß, man pflegte die Klassiker. Aber eigentlich nicht
ihnen selbst zu Liebe, sondern weil sie den Pathetikern
unter den Darstellern dankbare Rollen boten, man ging
nicht ins Theater, um Shakespeare oder Goethe zu hören,
sondern um Lewinsky als Richard den Dritten, um Bau¬
meister als Götz, um Kainz als Hamlet zu sehen. Dieses
rein Visuelle herrschte vor, verbunden mit dem
Musikalischen. Es gibt heute noch Leute, die Krastls
Stimmklang nachahmen können, aber kein Wort, das er ge¬
sprochen, im Erinnern behalten haben.
Die Schnitzler=Verhimmelung wurde nur von einer ge¬
wöhnlich jüdischen=Intéllektuellenschicht getragen, das andere
waren Mitläufer oder — wie man hier sagt — Adabeis,
die große Menge des Publikums blieb ihm fremd, sie hielt
sich an den Schauspieler, nach wie vor.
So müssen wir auch die heutigen Theaterverhältnisse