VII, Verschiedenes 11, 1895–1898, Seite 21

1. Miscellaneens
Die Götzendiener von Wien.*)
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Das gern citirte Wort, das die Männer von der
Feder als jene Leute definirt, die ihren Beruf verfehlt
hätten, wird über kurz oder lang eine kleine Erweiterung
erfahren müssen. Die besten Federleute sind die, welche
den journalistischen, den schriftstellerischen Beruf verfehlt
haben. Da liegt vor uns ein Buch. Der Autor ist nicht
genannt. Wir respectiren seine Bescheidenheit, seine namen¬
lose Zurückhaltung, und wir verrathen seinen Namen nicht.
Aber aus dem Werke spricht die Individualität des Autors
so klar, daß es keine Kunst ist, sich ihn dentlich vor¬
zustellen. Zum Abzeichnen deutlich. Und wir stellen uns
den Autor des neuen Romanes „Götzendienst“ jenes
Wiener Gesellschaftsbildes, das gegenwärtig alle Wissenden
in Athem hält und den Nichtwissenden tausend und ein


)„Götzendicnst,“ Wiener Gesellschaftsbilb
von 4%, Verlag von Carl=Konegen, Wien, 1899.
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sel aufgibt, ungefähr so vor, wie ihn das neben¬
gende Conterfei weist. Da er nicht genannt sein wollte,
ießen wir ihn eben zeichnen.
Wer an einem Premièrenabend des Burgtheaters
im Parquet sitzt der muß ich eigentlich wundern, wie
klein Wien ist, wie sich Alles tennt, wie von Sitz zu Sitz,
von Reihe zu Reihe gesprochen und gegrüßt, gelächelt und
coquettirt wird. Es ist wahrscheinlich in anderen Gro߬
städten auch nicht anders. Die sogenannten oberen Zehn¬
tausend verlieren in der Nähe betrachtet einige Nullen.
Es bleiben deren übrigens noch geung. Das geht auch
aus unserem Roman hervor, der das Herzensgeheimniß
des verschleierten Antors bildete, ein Geheimniß mit
dessen Enthüllung er selbst seine intimsten Freunde über¬
raschte.
Sehen wir uns jetzt ein wenig in dem Werke um.
Wenn wir nicht irren, so beginnt der Roman in einem
Theater, das nicht allzu weit vom Weghuber=Park ent¬
fernt liegt. Dort ist gerade Probe. Die dabei anwesend
sind, werden mit derselben photographischen Treue ge¬
schildert, wie Diejenigen, die ihr fernbleiben. Zu den
Letzteren zählt natürlich der Director, der wohlbeleibte,
gemüthliche Herr, der ganz entschieden alte Weine jungen
Talenten vorzieht. Von ihm gibt Wachsmuth, der
Theater=Habitué, das überzeugungsvolle Urtheil ab:
„Ein ganz ungewöhnlich tüchtiger Mensch das heißt,
er kümmert sich eigentlich gar nicht um sein Theater;
aber glücklicherweise gehr es auch so.“ Deswegen weiß er
ganz genau, was das Publicum verlangt. Die Kassen¬
rapporte sind sein Lebensstudium. Die Polizei hat ihm
einmal eine Entkleidungsscene gestrichen. Die neunte Vor¬
stellung, wo die Scene noch gespielt wird, bringt eine
Einnahme von 1800 fl. Die zehnte und elste, wo sie
bereits gestrichen ist, klos je 1550 fl. Die eine Scene
repräsentirt alfo einen Barwerth von 250 fl. „Sie sehen“
„an
sagt der Director einer Rollenbewerberin —
diesem Beispiel, wie leicht der Werth eines Kunst####es
geschädigt wird.“
Die Person des Directors Mohrheim zu
agnosciren, bietet nicht viel mehr Schwierigkeiten, als
die Rafke's, des Entdeckers. Dr. Rafke hat glücklich
herausbekommen, daß gegenwärtig, speciell in Wien eine
neue, überaus glänzende Literatur=Epoche angebrochen ist,
daß es in dieser Stadt von hervorragenden Dichtern nur
so wimmelt. Er wäre gar nicht mehr Rafke, meint der
Aufor, besäße er denselben Geschmack wie alle Welt. Ein
unglaublicher Kerl, ein Teufelskerl, sagt die Gesellschaft
von ihm. Ein geistreicher, ein sehr bedeutender
Mann,“ meint Wachsmuth, „er gehört unstreitig zu
unseren hervorragendsten Geistern
das heißt,
ich glaube, daß er verrückt ist.“
Wachsmuth, der Theater=Enthusiast, ist die gläuzendst
gezeichnete Figur des ganzes Buches. Nach seinem Urbild
zu suchen, wäre vergebliche Mühe. Denn von allen
Theater=Enthusiasten Wiens hat der Autor ihm markante
Züge geliehen. Man plage sich nicht mit diesem Vexir¬
bild. Eine hundertsilbige Charade, unlösbar, weil es
überhaupt keine Lösung gibt.
Und Garda, die Sensations=Schauspielerin, die
sich im Stück des Literatur=Reformators Rafke nicht
weniger als fünfmal bei offener Scene zu entkleiden hat
und sich dieser künstlerischen Riesenaufgabe mit solchem
Geschick entledigt, daß jede Monotunie vermieden wird
und sich im Publicum keine Spur von Langweile oder
Ermüdung zeigt. Sie ist die Meisterin im Vortrag
schlüpfriger Pointen. Wie keine Andere weiß sie mit
ihrem Antor zu dem schönen Zwecke zusammenzuwirfen,
die Schamhaftigkeit des Publicums immer noch ein wenig
mehr zu verletzen und so jene künstlerische Steigerung
des Genusses herbeizuführen, die dem Thaliatheater die
Gunst des Publicums und der Agioteure in so nach¬
haltiger Weise sichert.
Wie Garda, die unerreichte Darstellerin der
Moderne im Kampf um Theater= und Lebenserfolge, die
ideale Künstlerin Clara Merz besiegt, das ist die Haupt¬
handlung des Romanes, um die sich in losen Arabesken
die satirischen Schilderungen Wiener Gesellschaftslehens
ranken. Diese Letzteren sind das Wertyvollste des ganzen
eberin
Buches. Der Salon Roland, Gastgeber, Ga
tigen
und Gäste sind Cabinetsstücke einer scharfen, langiä
Beobachtung. Er ist ein Spiritusfabrikant, der das feinste
Unterscheidungsvermögen für die einzelnen Spiritusartenbe¬
sitzt und die verschiedenen eingeladenen Künstler niemals aus¬
einander zu halten weiß. Zum Entsetzen seiner kunst¬
sinnigen Gattin fragt er den eingeladenen Cellisten, ob er
gut bei Stimme sei, und die Barbi hält er für eine
Claviervirtuosin. Fran Roland, die sensitive Salondeme,
schwelgt in fortwährendem Begeisterungsrausch, umarmtalle
weiblichen Gäste und hat sich selber zur lebenslänglichen
nervenzerstörenden Hetzjagd nach Berühmtheiten für ihren
Salon verurtheilt. „Wird der Kammersänger L. absagen
Ist die Y. heute bei Stimme?“ Das sind ihre Fragen an das
Schicksal.
Im Salon Roland aber wimmelt es von guten
und schlechten Bekannten. Da ist Dr. Lohm
Sänger des Hohenliedes vom „süßen Mädel“, die m
Damen aus gutem Haus kennen nur den einen Eörgeiz,
seinen Forderungen gerecht zu werden. Jede #
Flirt, ist stolz darauf, von einem der noch schu
Dichter, die Rasle ihre Entdeckung verdanken, „füßer Afle
genannt zu werden, und sie neiden sich gegenseitig bedeu¬
tungsvolle Rendezvons in verschwiegenen Durchhäusern.
Dabei lugen sie recht fleißig nach der guten Partie aus.
Sie heucheln blos, leidenschaftlich und unbesonnen zu sein.
In Wirklichkeit sind sic es nur bis zu einem genau im
Voraus bestimmten Punkt. Denn im Grumde liegt ###
ihnen ferne, sich ernstlich zu compromittiren und ihre
schöne Zukunft an der Seite irgend eines Seifefabrikanken
zu gefährden.
Welche originelle Figur ist der bemirleidenswerche
Rentier, dessen Lebensunglück es bildet, fortwährend
erben und dann mit der Schwierigkeit zu kämpfen, san
Geld anzulegen. Armer Mann! Eisenbahn=Prioritätzen
werden ihm ausgelost, Haussätze gekündigt. Er steht de
mit seinem Geld und weiß nicht wohin damtt. Dahei
will er heiraten. Aber er hat viel von der Vererbung