VII, Verschiedenes 11, 1899–1901, Seite 44

Nlien. IX, Pürkenstrasse 1.

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Initt aus: Wiener Tagblatt
V/3 130—
4Es gab eine Zeit, da empfindsame Leser tur die Pan,
Pariser Grisette schwärmten. Heutzutage ist die Grisette und ist bei alledem doch ein sompathisches Geschöpf: sie
nur noch eine literarische Erinnerung. Die Studenten insverföhm uus durch ihre unverwüstliche untürliche Gnt¬
Paris gedenken ihrer zuweilen bei heiieren Gelagen in
mütbigkeit. Die Mitte zwischen Beiden hält das sanfte,
dem Moment, da sie eine rührselige Stimmung umfängt.
weinerliche, sentimentale, süße Mädel, das gerührt ist, wenn
Dann singen sie ein gar wehmüthig Lied, das jene
ihr der Geliebte ein Veilchenbouquet überbringt und zu¬
längst verrauschie Zeit schildert, da in den Studenten¬
frieden ist, wenn er ihr ein frugales Nachtmahl in einem
mansarden des alten Quartier latin das fröhliche Lachen
Vorstadtbeisel bietet. Ihr erscheint die Liebe als eine
der Pariser Grisette erklang. „Du bist jetzt,“ so lautet der
reizende Episode in der öden Langeweile ihres Lebens.
Schlußvers in diesem Liede, „wenn Du noch lebst, ein
Wenn der Liebesrausch verflegen ist und der Gelieble sie
altes Mütterchen und strickst irgendwo in der Provinz
verlassen hat, so jammert sie nicht, stirbt sie nicht, sie ügt
einen Strumpf, aher manchmal erhellt Dein runzeliges
sich still ergeben in ihr Geschick, beiratet einen ehrlichen
Gesicht ein Lächeln; Du denkst dann an die schönen, alten
Handwerker und wird eine brave Hausfrau.
Zeiten.“
Die Galerie dieser Mädchengestalten bat nun Felix
Ja, diese schönen Zeiten sind längst vorüber. Die
Dörmann in seinen „Krannerbuben“ durch eine neue Spiel¬
Pariser Grisette existirt nicht mehr. Dieser von einem
art bereichert. Seine Poldi Hauer ist das „süße Mädl“:
romantischen Zauber verklärte Mädchentypus, den vor
mit sittlichen Prinzivien, mit ethischem Pathos. Poldi gibt;
mehr als einem halben Jahrbundert Murger und Alfred
sich nicht leicht hin. Sie hat eine heillose Angst vor der
de Musset in die französische Dichtung einführten und der
Lebe, vor dem Mann. Poldi will geheiratet werden! Sie
in Frankreich bereits zur Legende geworden ist, hat aber
ist aber auch ein tapferes Mädchen. Der Betrug, der an
merkwürdigerweise während der letzen Jahre in der Literatur
ihr verübt wird, erdrückt sie nicht. Sie überwindet den
Jung=Wiens seine Auferstehung gefeiert. Arthur Schnitzler
Schmerz und nimmt mit ungebrochener Kraft den Kampf
hat bekanntlich bei uns diesen Typus entdeckt und ihn als
mit dem Leben wieder auf.
Erster auf die Bühne gebracht, ja sogar burgtheaterfähig
*
gemacht. Es ist das „süßze Mädel“, das uns Schnitzler in
Der Autor hatte allerdings bei der Ausarbeitung
drei verschiedenen Variationen vorführt. Da ist zunächst
seiner Komödie eine andere Absicht als die, in dem Thema
die Christine in der „Liebelei“. Das ist das „süße
des „süßen Mädels“ einen=neuen Ton anzuschlagen. Er
Mädel“ auf dem tragischen Kothurn. Die gehört
hatte ein größeres, jä ein großes Ziel vor Augen. Ihn
zum Stamme Asra. Die stirbt, wenn sie liebt.
fappirte die sozial bedeutsame Thatsache, daß bei uns in
Das heitere Gegenspiel zu ihr bildet das flatter=viel höherem Maße als anderwärts große industrielle
hafte, süße Mädel, die aus dem Vollen lebt, wenn sie Häuser deshalb verschwinden, deshalb zusammenbrechen,
liebt. Diese ist in Sacher's Speisekarte ebenso bewandert, #meil in der zweiten und dritten Generation die wirtb¬
wie in den verschiedenen Waffengattungen der Armee. Sie schaftliche und moralische Kraft verloren—geh
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Gründer dieser Firmen beseeite. Der Großvater ist ein kann. Er steht als ruhiger Beobachter äußerlicher Zustände?
Selfmademan, er hat von der Pike auf gedient, er hat
da. Seine Unsittlichkeit ist hart und kalt. Das war auch
durch Fleiß, Umsicht und Sparsamkeit, durch seine kauf¬
der Grund, warum so viele wehleidige Leute im Première¬
männische und industrielle Begabung eine große und
publikum über die moralische Indifferenz seiner Gestalten
so entrüstet waren.
blübende Fabrik ins Leben gerufen. Die Söhne und
Enkel aber, die im Wohlstand aufgewachsen sind, ver¬
Aber dort, wo ihm selbst das Herz aufging, da
schwenden durch ihren Leichtsinn und durch ihre Genu߬
schlug er auch das Publikum in seinen Bann. Es war
sucht das Erbe. Sie kennen weder die moralischen, noch
dies leider nur bei einer einzigen Gestalt der Komödie #
die wirthschaftlichen Pflichten, die der Besitz auferlegt.
der Fall, bei dem süßen=Mädel Poldi Hauer. Wie liebe¬
Das ist die Thatsache, die der Dichter durch ein ein¬
voll ist diese Poldi gezeichnel! Potdi kennt das Leben.
Fleuchtendes dramatisches Exempel beleuchten wollte. Er ist
Das unglückliche Schicksal ihrer Schwester hat sie gelehrt,
aber gerade hier, im Kernpunkt seines Stoffes, an puren
welche verhängnißvolle Folgen aus der blinden Hingebung
Aeußerlichkeiten haften geblieben. Wenn uns ein Dichter
erwachsen. Daher ihr Bangen vor der Liebe. Daher ihre
Iin der dumpfen Stickluft des Hinterhauses sittlich ver¬
anfängliche Sprödigkeit gegenüber Franzl, den sie liebt.
Tkommene Menschen vorführt, so glauben wir ihm aufs
Wie sie sich aber allmälig gewinnen läßt und in die
WWort. Der demoralisirende Einfluß des Elends springt in
Arme des lockenden Verführers sinkt, wie sie aus ihrem
die Augen, er bedarf daher keiner weiteren Begründung.
Liebestraum erwacht, wie sie entrüstet aufschreit, als!
In der Thatsache des ererbten Besitzes liegt aber nichts
Franzl an sie mit dem Ansinnen herantritt, seine Geliebte
Demoralisirendes. Es müssen ganz besondere psychische und
auch nach seiner Verheiratung zu bleiben, und wie sie
gesellschaftliche Momente dazu kommen, um uns diese
ihm aus gramvoller Seele die stolzen Worte zuruft:k
Demoralisation glaubhaft zu machen. Erst wenn dies
„Jetzt hab' i Dich kennen g'lernt. Jetzt weiß ich, wie Du
geschieht, gewinnt ein derartiges Bild tiefe, moralische Be¬
bist. I gönn' Dich Deiner Frau als a ganzer! Du thust
deutsamkeit, selbst dann, wenn es an sich no# so unsittlich
mir leid. Du bist a armer Kerl. Pfüat Di Gott“ — all¬
ist. Dörmann's „Krannerbuben“ hingegen treten gleich von
das ist fein und zart, echt und tief.
vorneherein als Lotierbuben vor uns. Franzl macht aller¬
Aber es ist zu wenig. Es ist vor Allem nicht das,
dings den Eindruck, als ob eine edle Anlage in ihm
was im Grundmotiv des schönen und ausgiebigen Stoffes
schlummerte. Aber sein Bruder Ferry belehrt uns recht¬
lag. Aus einem großen Zeit= und Sittenbilde, das dem ##
zeitig, daß dieser Franzl ein Poseur ist. Diese Figuren
Dichter vorschwebte, ist eine simple, alltägliche Liebes¬
sind trotzdem wahr. Gewiß. Aber sie haben die kahle,
geschichte mit einer feingezeichneten, neuen Spielart des #
flache Wahrheit nüchterner Thaisachen.
süßen Mädels als Vordergrundsfigur geworden. Aber
Dörmann hat nicht das ernste, tiefblickende Auge des
nun wäre es wahrlich an der Zeit, daß man diesen?
Tragikers, er verfügt nicht über den herben, grimmigen
Mädchentypus, den wir bereits zur Genüge kennen, ruhen ##
Spott des Satirikers, er besitzt auch nicht jenen lachenden
ließe. Er hat seine Schuldigkeit vollauf gethan.
m. b.
Humor, der uns das sittlich Anstößige genießbar machen